»Beim Gehen bin ich ganz Auge«, schreibt Frédéric Gros in seinem Buch: Unterwegs.
Als visuell geprägter Mensch bin ich auf meinen Wegen fast immer mit einer Kamera
unterwegs. »Fotografieren heißt, sich das fotografierte Objekt aneignen. Es wird uns
das Gefühl vermittelt, als könnten wir die ganze Welt abspeichern, als eine Anthologie
von Bildern«, sagt Susan Sontag. Diese Anthologie von Bildern nehmen wir als Sinnes-
eindrücke mit nach Hause und schöpfen daraus für trübere Zeiten.
Eine Fotografie ist nicht nur eine Interpretation der Wirklichkeit, sondern auch Spur, wie
ein Fußabdruck. Meine Fußabdrücke werden Sie in diesem Buch begleiten und führen.
Dabei versuchen die Texte aus dem Bereich der Kulturwissenschaften vertraute Sujets
immer wieder anders zu sehen, um neue Wahrnehmungsperspektiven aufzuzeigen.
Das Gehen hilft uns nicht nur geistig auf die Sprünge. Wir wissen, dass das Gehirn
auf eine äußere Taktfrequenz positiv reagiert. Der Hippocampus wird stimuliert und
geistige Aktivität angeregt. Beim Gehen erschließen wir uns die Welt auf allen Sinnes-
kanälen. »Denn Bewegung funktioniert nur dadurch, dass ich eine Sensorik zur
Verfügung habe, die mich fragt: Wo bin ich hier eigentlich? Wie bewege ich mich hier
gerade? In welchem Tempo? Und zu welchem Zweck?«
Der vorliegende Band betrachtet nicht nur meine subjektiven Eindrücke beim Gehen
oder Wandern in der Natur, sondern auch das urbane Gehen in Städten. Dieses
Wechselspiel und mein Interesse für moderne Architektur prägen meine Ausflüge,
die immer mit einer Auszeit verbunden sind. Städte, die bereits durch Touristen-
ströme stark frequentiert sind, habe ich bewusst ausgespart. Der Kontrast zwischen
visionärer, moderner Architektur und morbidem Charme stehen so nebeneinander.
Flanieren in der Stadt heißt, sich in einer beschleunigten Welt langsam zu bewegen,
sich abzugrenzen, um gleichzeitig den Blick für die Wahrnehmung von Details zu
schärfen. Ein gewohntes Detail wird zur Besonderheit transformiert.
»Spazierengehende Menschen sind schon durch den Gebrauch ihrer Füße langsamer –
und da sie gehen, weil sie Lust dazu haben, und nicht, um anzukommen, sind sie
zeitlich unberechenbar«, sagt der Spaziergangswissenschaftler Lucius Burckhardt.
Der Spaziergänger befindet sich auch immer auf einer Schwelle des Weges.
Wir kommen an. Ist es ein Ende oder ein Neuanfang ?
Irmgard Sonnenweiterlesen