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Mensch & Tier

polylog 45

Produktform: Buch

Mensch und Tier Madalina Diaconu, Ursula Baatz Einführung Dass Tiere seit mittlerweile zwei Jahrzehnten oder länger in den Fokus philosophischer Überlegungen gerückt sind, markiert so etwas wie einen Epochenwandel. Descartes, bekanntlich nicht nur Philosoph, sondern auch Arzt, klassifizierte Tiere als dumme, automatenartige Wesen. Damit rückte die Nützlichkeit in den Vordergrund, und das Gemeinsame verschwand aus dem Blickfeld. Dann konzedierte Jeremy Bentham den Tieren Leidensfähigkeit, und mit Darwin rückten die Tiere wieder in die Nähe der Menschen – als mehr oder minder weit entfernte Verwandte. Pionierinnen wie Jane Goodall oder Diana Fossey zeigten, dass Primaten den Menschen näher sind als gedacht, und die folgende Forschung weitete sich auf das Verhalten anderer Tiere aus. Intelligenz ist längst nicht mehr menschliches Alleinstellungsmerkmal, auch nicht Individualisierung. Und auch nicht Kultur, wie die neuere Forschung zeigt. Dem hat die Philosophie mittler­weile vor allem mit einer Tier-Ethik-Debatte Rechnung getragen. Im Kontext interkulturellen Philosophierens waren Tiere und eine Philosophie der Tiere bisher kein Thema – das hängt vielleicht auch damit zusammen, dass viele Themen der interkulturellen Philosophie durch Mainstream-Diskurse vorgegeben werden, und die Tierphilosophie erst seit kürzerem überhaupt als relevant angesehen wird, aber keineswegs noch Mainstream ist. Anders sieht es in den Kulturwissenschaften aus. So wurden in den letzten Jahren Zeitschriften zu Human-Animal-Studies gegründet; und es sind zahlreiche Studien zur Kulturgeschichte von Tierarten, ethnologische und religionswissenschaftliche Untersuchungen zum Umgang mit den Tieren in anderen Kulturen oder auch literaturwissenschaftliche Analysen zu den Repräsentationen von Tieren als konkreten Lebewesen und als fiktiven Alter Egos von Menschen entstanden. Auch in der zeitgenössischen Kunst lässt sich ein reges Interesse am tierischen Anderen bemerken, und die ästhetische Theorie begleitet wiederum diese Entwicklung durch empirische Forschungen über die »kunstschaffenden« Fähigkeiten von Vögeln und Säugetieren. Im Lichte der aktuellen Ethologie und evolutionären Anthropologie wurde auch für manche Philosoph*innen die tradierte Wesensunterscheidung zwischen Mensch und Tier fragwürdig. Um diese Wende zu unterstützen, wurde eine ganze »tierfreundliche« (wenn auch marginale) Denktradition in der europäischen Philosophie rehabilitiert, die von Pythagoras und Proklos über Montaigne und Diderot bis Nietzsche reicht. Doch auch die Tierethik und die philosophische Argumentation für die Anerkennung von Tierrechten hat bislang kaum Bezug auf andere Kulturtraditionen genommen. Die globalisierten industriellen Tierzucht- und Fisch­fangmethoden zerstören einstweilen auch die Spuren eines anderen Umgangs mit Tieren. Inzwischen fehlt es auch nicht an Versuchen, die in der Umweltphilosophie verbreiteten Vorwürfe gegen die religiösen Wurzeln des herrschaftlichen Verhaltens des Menschen und mancher Speiseverbote aus der Perspektive einer jüdischen, christlichen oder islamischen Tierethik zurückzuweisen. Nichtsdestotrotz bleibt die Untersuchung der Mensch-Tier-Beziehung in der interkulturellen Philosophie immer noch ein Desiderat. Diese Lücke kann das vorliegende Heft nicht füllen, aber einen ersten Anstoß zu weiterer Beschäftigung geben. Zum Programm einer künftigen, interkulturell ausgerichteten Tierphilosophie gehören Fragestellungen der Anthropologie und der politischen Philosophie ebenso wie Entwürfe einer Tierästhetik oder die philosophische Untermauerung brisanter Anforderungen der Tierschutzbewegung. So wäre zum Beispiel zu untersuchen, ob die in der europäischen Kultur überlieferte Zwischenstellung des Menschen zwischen Tieren und Göttern auch in anderen Kulturkreisen anzutreffen ist. Wurden auch dort Eigenschaften identifiziert, die in den Rang einer ausschlaggebenden Differenz zwischen den menschlichen und den nicht-menschlichen Tierarten erhoben wurden? Überlappen sich diese mit dem Phallogozentrismus der europäischen Anthropologie? Wie haben sich nicht-binäre Logiken und Prozessontologien anderer Kulturen auf die Vorstellungen von Tieren und Mischwesen ausgewirkt, da sie eine höhere Sensibilität für Analogien und Verwandtschaften, für Metamorphosen und Kontinuitäten als gewöhnliche Ontologien diskreter Dinge aufbringen? Auf den Punkt gebracht: Lässt sich die Kritik der aktuellen Tierphilosophie am differentialistischen Paradigma (das einen wesentlichen Unterschied zwischen Menschen und nicht-menschlichen Tieren postuliert) womöglich auch durch Anthropologien, die in anderen Weltgegenden entworfen wurden, unterstützen? Und spielt auch in diesen die Empathie eine zentrale Rolle für die Interspezieskommunikation? Welche Begriffe werden dort verwendet, die eventuell vor der Subjekt-Objekt-Spaltung (immer noch spürbar in der »Em-pathie«) und vor der analytischen Trennung zwischen Affektivität (die uns mit anderen Tieren verbindet) und Denken (das die Überlegenheit des animal rationale erklärt) gelten? Was können wir von anderen Sprachen lernen, um dem zumindest auf Deutsch stark geprägten Speziesismus zu entkommen? Eine Hauptfrage der gegenwärtigen Tierphilosophie betrifft die Möglichkeit, den Subjektstatus auch den (bzw. manchen) Tieren zuzuschreiben; eine Frage, die mit der Frage nach Tierrechten verknüpft ist. Aus der Perspektive nicht-europäischer Denktradi­tionen könnte sich diese Frage möglicherweise als sinnlos herausstellen. Vielleicht können sie andere, geeignetere Begriffe bieten, die von unserem anthropozentrischen Humanismus weniger vorbelastet sind und in Bezug auf das Lebendige inklusiver sind. Jedes Zusammenleben, auch das zwischen Menschen und Tieren, ist relational, eine Form wechselseitiger Bezogenheit – was in diesem Kontext die Frage nach der Agency von Tieren, eventuell auch nach (proto-)moralischen Gefühlen im Tierreich aufwirft. Gegen die geläufige Vorstellung der Tiere als bloße Instrumente für menschliches Handeln – ob in ökonomischer, politischer oder militärischer Hinsicht – lohnt sich der Versuch, die Perspektive umzudrehen: was sind die synchronen und diachronen Folgen menschlicher Praktiken für Habitate und Spezies (einschließlich der langfristigen Änderung ihres Körpers und Verhaltens)? Und was sind synchrone und diachrone Rückwirkungen unseres Umgangs mit Tieren auf uns? Dazu kommt die kulturspezifische Symbolik mancher Tierarten, die »unverschuldet« entweder vergöttlicht oder dämonisiert wurden. So haben manche Philosoph*innen, nicht weniger als manche Schriftsteller*innen oder Künstler*innen ihre eigenen »Bestiarien«, denken wir etwa an Kafka oder Derrida. Eine interkulturell ausgerichtete Tierphilosophie darf dabei nicht die wirklichen Tiere vergessen oder bei ihrer Verklärung durch die Medien und Populärkultur mitmachen; von einer gesellschaftskritischen philosophischen Reflexion ist zu erwarten, dass sie tierbezogene Praktiken kritisch hinterfragt. Das gilt auch für das dichotomische, gleichsam schizoide Verständnis von Tieren in der Gegenwart, indem manche Tierarten auf funktionierende Maschinen (bzw. Lebensmittel- und Rohstofflieferanten) reduziert werden und andere wiederum verzerrt anthropomorphisiert werden. Um mit Derrida zu sprechen: »Das Tier« im Singular gibt es nicht, doch fungiert es als Gespenst zwischen der Grausamkeit der Tier­fabriken und einer verkitschenden Disneysierung. Keine dieser Einstellungen ist »artgerecht«, sondern vollzieht eine Aneignung und Fremdverzweckung von Tieren. Die allgemeine Frage nach der Gerechtigkeit, die im Mittelpunkt des interkulturellen Philosophierens steht, muss auch auf Gerechtigkeit für Tiere (»animal justice«) ausgedehnt werden. Nicht zuletzt kann eine kulturphilosophische Tierphilosophie ethologische Studien rezipieren, die den Kulturbegriff auf Tiere erweitern. Dadurch würde aber auch der Begriff von Interkulturalität in einem anderen Licht erscheinen und sich auf das Verhältnis zwischen menschlichen und nicht-menschlichen Tieren oder auf Symbiosen mehrerer Tierarten anwenden lassen. Die Begrifflichkeit der Biologie, die von Bakterienkulturen und Virusstämmen spricht, kann auch von einem philosophischen Standpunkt aus reflektiert werden, ebenso wie – pointiert formuliert – der Mensch selbst nicht ohne die biologische »Multikulturalität« seines Innenleibs überleben kann. Das »zivilisierte« Europa der Neuzeit stellte Menschen aus den Kolonien genauso wie exotische Tiere auf Jahresmärkten aus und beutete ihre Arbeitskraft aus, nicht anders als jene der sogenannten Nutztiere. Ebenso wurden Frauen im Privaten eingesperrt und oft harmlosen »Haustieren« gleichgesetzt. Auch im 20. und 21. Jahrhundert werden Menschen von kriegsverbrecherischen Regimes bestialisch als Tiere behandelt. Es ist notwendig, über die immanente Verschränkung zwischen Animal Liberation einerseits und Dekolonisierung andererseits, zwischen Posthumanismus und Postkolonialismus zu reflektieren. Die Critical Animal Studies lassen sich jedenfalls auch durch einen postkolonialen Ökokritizismus philosophisch begleiten. Dass außereuropäische Traditionen ein anderes und womöglich besseres Verhältnis zu Tieren haben, ist weder ganz falsch noch ganz zutreffend. Dies wird an einigen Beiträgen dieses Heftes sichtbar. Huaiyun Chen geht dem Verhältnis von Wildheit und Zivilisation unter den Daoisten des mittelalterlichen China nach und kommt zu dem Schluss, dass Daoisten die menschliche Zivilisation über die Wildheit der Tiere – prototypisch der Tiger – stellten. Die Höherbewertung des Zivilisatorischen, Menschlichen ist jedoch relativ, und die Grenzen zwischen Menschen und Tieren sind fließend. Tier-Mensch-Hybride treten in allen Erzähltraditionen auf, in unterschiedlichen hilfreichen und bedrohlichen Rollen. Wie Xie Chao zeigt, treten in zeitgenössischen Erzählungen aus der Volksrepublik China traditionelle Gestalten von Tier-Mensch-Hybriden auf, um die Distanz zwischen Menschen und Tieren zu relativieren, zugleich aber um die Bedrohung durch die Zerstörung der Umwelt durch technologische Interventionen zu zeigen. Die Einbeziehung der nicht-menschlichen Anderen, der Tiere, wird im Ansatz auch in afrikanischen Ethiken bedacht. Deren Fokus sind communal relations (Beziehungen zwischen verschiedenen Gemeinschaften), und Begriffe wie ubuntu (Menschlichkeit) oder ukama (relational) werden gelegentlich auf nicht-menschliche Gruppen ausgeweitet. Doch in der Praxis, wie Kai Horsthemke zeigt, bleiben alte Strategien der Unterdrückung des (menschlichen und nicht-menschlichen) Anderen bestehen. Domestizierung als Erfahrung von Unterdrückung: das gilt auch für Tiere, sagt Dafni Tokas, die in ihrem Beitrag Argumente zur Befreiung der domestizierten Tiere untersucht. Interkulturelle Philosoph*innen müssen sich ebenso vor einer voreiligen Pauschalkritik der eigenen Kultur wie auch vor der wohlwollenden Idealisierung anderer, »naturnaher« und »tierfreundlicherer« Denktraditionen schützen, die letztlich nur die Unzufriedenheit mit dem Eigenen legitimiert. Die Beiträge dieses Heftes sollen ein erster Versuch in diese Richtung sein.weiterlesen

Sprache(n): Englisch, Deutsch

ISBN: 978-3-901989-44-5 / 978-3901989445 / 9783901989445

Verlag: Wiener Gesellschaft f. interkulturelle Philosophie

Erscheinungsdatum: 01.08.2021

Seiten: 136

Auflage: 1

Umschlaggestaltung von Michael Shorny
Herausgegeben von Ursula Baatz, Madalina Diaconu
Autor(en): Huaiyu Chen, Kai Horsthemke, Jan Brousek, Dafni Tokas, Xie Chao, Marta Tafalla

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