Als Leo Kestenberg (1882–1962) im Spätherbst 1932, wenige Wochen vor der nationalsozialistischen "Machtergreifung", seine Position als Musikreferent im preußischen Kultusministerium verlor, schrieb ihm Paul Bekker, einer der führenden Musikpublizisten der Zeit, in einem offenen Brief: "Gerade ihnen gegenüber wird erst eine spätere Zeit zu annähernd gerechter Würdigung der getanen, mehr noch der geplanten Arbeit gelangen können." Dieser Zeitpunkt ist womöglich erst heute gekommen. Mit dem Scheitern der Weimarer Republik brach vieles ab, was trotz aller Kompromisse und Provisorien im Zeichen der ersten deutschen Demokratie begonnen worden war. So auch die Musikreform, für die Kestenbergs Name steht. Nach 1945 legte man sich die "Kestenberg-Reform" als ein Bündel von Prüfungsordnungen und Lehrplänen, hauptsächlich zur Schulmusik, zurecht. In dieser Sicht der disziplinären Musikpädagogik rückte jedoch weder Kestenbergs Vision einer demokratischen Musikkultur noch seine konkrete Arbeit in ihrem ganzen Umfang in den Blick. Der übergreifende Zusammenhang mit der Kulturpolitik der Weimarer Republik blieb undeutlich. Die von Kestenberg betriebene Reform gehört jedoch in prononcierter Weise zur Weimarer Kultur, das heißt zu den Bestrebungen, das Gebot des "Kulturstaats" der Weimarer Verfassung mit Leben zu erfüllen. Wie weit reichte Kestenbergs Einfluss? In welchem Verhältnis steht Weimars unvollendete Musikreform zu seinem Wirken? Ja, gibt es überhaupt eine "Kestenberg-Reform"? Diese Fragen erweitern den Rahmen der bisherigen Betrachtung und sind geeignet, Kestenbergs Wirken in der Geschichte der Weimarer Republik zu verorten.weiterlesen