Michael Köhlmeier erzählt Sagen aus Österreich: Wien
Produktform: Audio CD
Die Sprache bewahrt vieles, das längst unserem Blick entschwunden ist: Nach wie vor gibt es zum Beispiel die Bezeichnung „Schottentor“ in Wien, obwohl dieses alte Stadttor der Stadtbefestigung im Jahre 1862 demoliert wurde. Einer neuen Prunkstraße - der heutigen Ringstraße - musste es weichen, und kein Stein erinnert mehr daran. Aber sein Name blieb - das überlieferte und gesprochene Wort besitzt auch im urbanen Bereich eine besondere Kraft, die alles Materielle überdauern kann. Die alten Stadttore waren jahrhundertelang in der Welt der Erzählung als Schwellenbereiche zwischen draußen und drinnen spezifische „magische Orte“. Hier verdichteten sich sagenhafte Ereignisse, wie zum Beispiel bei dem erwähnten Schottentor. Auf dem angrenzenden Platz, der Freyung, prallen Heiliges und Dämonisches aufeinander: Der dreieckige Platz wird auf der einen Seite von der Schottenkirche dominiert, während an seinen Rändern der Sage nach teuflische beziehungsweise bedrohliche Kräfte ihr mächtiges Spiel treiben. Zu diesem dämonischen Sagenkreis gehört die Geschichte „Das rote Mandl“, in der Doktor Faust seinen großen Wiener Auftritt als Magier absolviert. Ob er im Jahr 1538 wirklich in die Stadt gekommen ist, bleibt nach wie vor unklar. Ein Motiv der Erzählung -„Faust frisst einen Jungen“ - stammt allerdings aus dem weit verbreiteten Volksbuch von Doktor Faust. Hingegen steht die sagenhafte Teufelserscheinung in einem gewissen Zusammenhang mit dem Hauszeichen des Gasthauses, das einen Mann im roten Mantel und mit einem Schwert darstellte. Denn bis zur Nummerierung der Häuser Ende des 18. Jahrhunderts erfolgte die Orientierung in der Stadt Wien nach Straßennamen und Hausschildern: nach bunten Bildern und kunstvollen Zeichen auf fast jedem Haus! Zu den wenigen, die sich erhalten haben, zählt der Basilisk in der Schönlaterngasse, eine seltsam geformte Kalk-Sandknolle - eine Konkretion -, die mit einem Krönchen, Hahnenschnabel und Schwanz aus Eisen ergänzt wurde. Mit der Geschichte dieses Fabeltieres haben sich seit der Antike viele Gelehrte beschäftigt, und sein Mythos wurde - wie auch in vielen anderen europäischen Städten - in Wien „verortet“. Den Menschen nannten die Griechen ephémeros: der, der dem Täglichen unterworfen ist, der Flüchtige. Die Römer bezeichneten ihn als terrigenus, von der Erde hervorgebracht. Die flüchtigen, erdhaften Menschen haben ein elementares, kulturübergreifendes Interesse, ihre Gedanken und Beobachtungen festzuhalten und zu stabilisieren. Die Mythen stellen eine Möglichkeit dar, die Welt mit ihrem metaphysischen Hintergrund zu erklären.
Bei den von Michael Köhlmeier vorgestellten Geschichten handelt es sich um „Wiener Großstadtsagen“, die seit der Aufklärung immer wieder literarisch bearbeitet wurden, novellistisch oder auch für die Bühne. Köhlmeiers unbändige Lust am Fabulieren bringt diese Wiener Erzähltradition voll zur Geltung.weiterlesen