Muschelrufe
SchreibKunst – Mit dem Notizbuch unterweges
Produktform: Buch / Einband - flex.(Paperback)
Nachrot der HErausgeberin Erika Schellenberger-Diederich:
Als ich das Vorwort unseres SchreibKunst-Autors Norbert Hummelt las, in dem er erstaunt davon berichtet, dass immer mehr Jugendliche in der Öffentlichkeit lesen und ihm junge Leute in der Berliner U-Bahn auffallen, die ein Buch in der Hand halten, und dies inmitten der vielen Smartphone-Nutzer, fühlte ich mich an das oben zitierte Statement der britischen Modedesignerin, Umweltaktivistin und Professorin an der Universität der Künste Berlin, Vivienne Westwood (1941-2022), erinnert.
Wenn es wieder etwas Besonderes ist, dem Lesen Raum zu geben, was mag es dann bedeuten, an einem Buch mitzuschreiben? Wenn man einen Text schreibt und sogar seine Veröffentlichung anstrebt, dann wird es richtig ernst mit Literatur. Mit einem Mal erhält der eigene Text eine enorm hohe Bedeutung, manchmal sogar mehr, als einem lieb ist. Es entsteht eine ganz besondere Nähe zum geschriebenen Wort, die sich anfühlt, als hätte man einen neuen Verwandten kennengelernt, den man gut und höflich behandeln muss.
Schreiben mit dem Ziel der Publikation geht am besten mit einem starken Verlag im Hintergrund. Die axel dielmann – verlag KG in Frankfurt ermöglicht es uns auch beim vierten Buch, weiterhin mit Ulla Bayerl von Bayerl & Ost und der erfahrenen Lektorin Regine Strotbek zusammenzuarbeiten. Ein professionelles und zugleich so feinfühliges Lektorat ist von unschätzbarem Wert für das Gelingen eines Buchprojekts dieser Dimension.
Muschelrufe. Wie geheimnisvoll klingt diese Metapher. Riya Angelina Singh aus Bad Wildungen nennt ihr Gedicht über die Sehnsucht nach dem einen persönlichen Ort der Ruhe und des Glücks so. Es wurde titelgebend für unsere ganze Textsammlung mit 144 wunderbaren Beiträgen. Es sind anrührend poetische Texte dabei, die um diesen verständlichen Wunsch zu kreisen scheinen und einem daher in besonderer Erinnerung bleiben, auch weil sie Trost spenden. Da baut ein Vogel sorgsam sein Nest, aber dann zieht ein großer, zerstörerischer Sturm auf. Doch der Vogel kommt zurück. Julius Kürzer-Peplies deutet in seiner Parabel nur fein an, wie es danach weitergeht, mit einer winzigen Geste: „… und hatte ein Stöckchen im Schnabel“. Ein einfacher Nebensatz, der eine komplexe und mitunter gnadenlos erscheinende (Natur-)Welt einschließt, in der jeder und jede den eigenen Platz suchen und mitunter verteidigen muss.
Manche düsteren Zwischenwesen und Gespenster sollen die Leser erschauern lassen und in Furor versetzen. Aber auch Humor spielt eine nicht unwichtige Rolle, wenn zum Beispiel eine kleine nervige Schwester kurzerhand in der Altpapiertonne entsorgt wird, wie es Emilia Römer ihre Ich-Erzählerin in „Meine schlimmste Tat“ auf die Spitze treiben lässt. Sei es im Klassenraum, im überfüllten Bus oder zuhause, oft sind es Alltagssituationen, die, nicht nur erzählerisch, immer wieder gemeistert werden (müssen).
Die vorliegende Sammlung reicht von ersten literarischen Gehversuchen einiger Fünftklässler bis hin zu maximal ausgereiften Beiträgen junger Erwachsener. Erstaunlich oft wird das Thema Zugehörigkeit verhandelt, ähnlich wie im Vorgängerband In diesem Wald findest du nichts mehr (Edition Faust, Frankfurt am Main 2021). Diese Texte offenbaren Befürchtungen des Ausgeschlossenwerdens aus Gruppen, Freundschaften und Beziehungen oder des möglichen Verlassenwerdens, weil man etwas Falsches getan, gesagt oder auch nur gedacht haben könnte. Das stimmt nachdenklich. Jemand, der sich traut, dies zu Papier zu bringen, ist sehr mutig. Eine ausgefeilte wie harmonische Gruppenarbeit in Muschelrufe ist die Neuübersetzung von Dylan Thomas’ Gedicht „Fern Hill“.
Schülerinnen und Schüler haben über das Landesprogramm SchreibKunst im Kontext der Kulturellen Bildung künstlerisch-ästhetische Erfahrungen gesammelt, die klar der Kunstsparte Literatur zuzurechnen sind, wie zu Macharten bestimmter Genres und zur Wirkung von Stilelementen. Aber ein zweiter Punkt, der mir immer mehr in den Mittelpunkt zu rücken scheint, hat mit Demokratielernen zu tun: Junge Stimmen finden hier Gehör und dies gewinnt zunehmend an Bedeutung.7
Zum ersten Mal haben wir in SchreibKunst der Textform Übersetzung und Essay (Coaching durch Norbert Hummelt, Lyriker und Essayist) sowie dem sachtextorientierten und dem im weitesten Sinne journalistischen Schreiben (Coaching durch Wolfgang Büscher, ehemals Ressortleiter Reise bei Die Welt) entsprochen. Diese Ergebnisse können sich sehen lassen und auch wir erwachsenen Leser erfahren Neues, egal ob über Formel 1 oder den Anfang der Chat Bots. Jugendliche stellen große Fragen und suchen selbst nach Antworten, es ist eine große Lust am Gestalten spürbar. Ihre Transit- und Reiseerfahrungen erweisen sich als reiche Erfahrungsschätze und erweitern den Horizont der Mitschülerinnen und Mitschüler sowie der Leserschaft.
Perspektivenwechsel kann man lernen. Warum sich nicht einmal in die Situation einer trotzigen Sonnenblume versetzen und der offenbar nur aufgrund positiver Zuschreibungen allzu selbstbewussten Rose die Meinung sagen? Und darf Schleierkraut, das ewige botanische Füllmaterial, nicht zu Recht beleidigt sein? In Silke Scheuermanns Schreibwerkstätten ist viel los seitens der denkenden und interagierenden und letztlich sprechenden Natur; eine besondere Form des Nature Writing, die nicht zu unterschätzende Strömung in der Gegenwartsliteratur, kommt somit in die Schule.
Humor als Stilmittel im Schulalltag wurde von Markus Orths (Bestsellerautor des satirischen Romans Lehrerzimmer) thematisiert, der sich erstaunt zeigt über die eher ernsten Themen der Schülerinnen und Schüler, denen er dennoch gern Raum gab. Dass man existenzielle Fragen durchaus in heiterer Haltung angehen kann und könnte – ein wichtiger Gedanke.
Das für Jugendliche erfahrungsgemäß besonders ansprechende Verfahren „Autofiktionales Schreiben“ wurde von Dilek Güngör (Journalistin und Autorin einer biografisch motivierten Trilogie) angeleitet und im Rahmen des literarischen Gruppen-Feedbacks vertieft. Hier kommt der Rolle des Erzählers und dem Stilmittel der Verfremdung, mit dem eine entlastende Distanz aufgebaut werden kann, eine ganz besondere Bedeutung zu.
Dalibor Marković und Dominique Macri beschäftigen sich als Team Scheller (Deutsche Poetry-Slam-Meisterschaft als Duo) mit sogenannter Alltagspoesie. Jugendliche konnten erfahren, dass Pointen ohne mehrfache Überarbeitung und Verdichtung gar nicht oder nicht wirklich zünden und dass gerade Zuspitzungen, so leicht und unterhaltsam sie auf der Bühne zelebriert werden, Wortwitz, präzises Timing und die eigene Präsenz erfordern. Denken macht richtig Spaß, so die Botschaft.
Auch die junge Slam-Poesie-Meisterin und Moderatorin des Hessenslams, Stella Jantosca, legt den Fokus auf präzises Beobachten und „erzieht“ junge Menschen quasi zur Sachlichkeit, die zugleich anrührend wirken kann. Obdachsuche und Heimatfinden kommen in ihren Workshops häufig zur Sprache. Solidarität und Empathie stehen auch im Genre der Slam-Poesie im Mittelpunkt.
Auf experimentelle Weise hat Sandra Burkhardt im Zusammenhang von Raumwahrnehmung und Raumbeschreibung gearbeitet: Unterschiedliche Perspektiven verändern das Erleben von Wirklichkeit und schaffen somit (neue) Fakten. Auch dieser Ansatz ist lehrreich im Sinne der politisch-kulturellen Bildung junger Menschen. Dass sich gerade jüngere SchreibKünstlerinnen und -Künstler gern darauf einlassen, überrascht zum einen, zum anderen aber auch nicht, ist doch im Märchenalter das Prinzip der Veränderung im Sinne von Verwandlung und Wunder noch selbstverständlich.
Zum ersten Mal werden in dieser Anthologie auch Texte aufgenommen, die im Rahmen der langjährigen Kooperation von SchreibKunst mit der traditionsreichen Initiative „Junges Literaturland Hessen“ im Kontext „Netzwerk Rundfunk und Schule“, entstanden. Die Autorin Saskia Hennig von Lange hat im Deutschen Romantikmuseum mit den jüngsten Schülerinnen und Schülern epische Kurzformen geschrieben, die oft das Unheimliche zeigen, was den Kindern aus dem Ebsdorfergrund offenbar großen Spaß bereitet hat. Eine schöne Idee, hier gemeinschaftlich zu publizieren, das fand auch Frau Kreiner von hr2-kultur.
Die Kunstsparte Literatur hat sich im Rahmen der Kulturellen Schulentwicklung in Hessen prächtig entwickelt. Im „Arbeitskreis Literarisch aktiver Schulen in Hessen“ sind wir stolz auf unser Jubiläum „10 Jahre SchreibKunst“, das wir groß feiern durften am 4. Oktober 2023 mit einer Werkschau und dem phänomenalen „Literarischen Picknick“ im Deutschen Romantikmuseum Frankfurt. Herzlicher Dank für die unkomplizierte Zusammenarbeit geht an Dr. Jasmin Behrouzi-Rühl und Dr. Doris Schumacher. Ein Schüler sagte viel später: „War der tollste Tag im ganzen Schuljahr!“ Mehr Lob geht nicht.
Das Hessische Ministerium für Kultus, Bildung und Chancen stellt die finanziellen und personellen Ressourcen für literaturfördernde Landesprogramme und Fortbildungen großzügig und verlässlich bereit. An dieser Stelle herzlichen Dank für die Unterstützung an den Referatsleiter Marcus Kauer und an Sabine Plag, die unzählige Honorarverträge mit Autoren und Autorinnen auf den Weg bringt.
Literatur spielt eine immer größere Rolle im Unterricht, sei es zur Kreativitätsförderung oder zur Vorbereitung auf Beruf und Studium. So sind 18 Schulen in Hessen im Netzwerk „Schulen mit besonderer Förderung der Literatur“ assoziiert. Die Lichtenbergschule Darmstadt und die Clemens Brentano-Europaschule Lollar werden 2025 als Profilschulen „Kulturelle Bildung – Literatur“ zertifiziert. Es macht mir große Freude, diesen Aufbruch erleben und fachlich begleiten zu dürfen.
Überhaupt ist bei aller notwendigen Anstrengung die Freude am Tun wichtig und die bleibt im Landesprogramm SchreibKunst, das nun in 10-jähriger Kooperation mit dem Staatlichen Schulamt Marburg-Biedenkopf läuft, immer spürbar: Es sind die Schulkoordinatorinnen und -koordinatoren, die dieses in der bundesdeutschen Schullandschaft wohl einzigartige Programm ermöglichen, das „draußen“ Bewunderung erntet von Autoren und Eltern. Sie halten sozusagen von Korbach bis Darmstadt an ihren Schulen die Fäden zusammen – sei es bei der Organisation der Schreibgruppen oder bei der Passung der schulinternen Formate, in denen SchreibKunst wirksam wird: als WPU-Kurs, als AG (erfreulich oft jahrgangsübergreifend), als Klassengemeinschaft im Deutschunterricht. Von der Abholung des Autors oder der Autorin am Bahnhof bis hin zur Sicherung der Schülertext-Dateien garantieren die Kolleginnen und Kollegen einen mehr als zweijährigen erfolgreichen Arbeitsprozess. Mein großes Kompliment und ein herzliches Dankeschön an dieser Stelle für diese tolle Zusammenarbeit an:
Verena Stettner und Christina Uhde
(Diltheyschule Wiesbaden)
Elisa Benner
(Heinrich von Gagern-Gymnasium Frankfurt)
Jutta Fischer
(Richtsberg Gesamtschule Marburg)
Gunild Schulz-Gade
(Gesamtschule Ebsdorfergrund)
Antje Koenen
(Max Beckmann-Schule Frankfurt)
Barbara Jericho
(Gustav Stresemann-Gymnasium Bad Wildungen)
Wiebke Meuser und Martin Karczewski
(Clemens Brentano-Europaschule Lollar)
Judith Nußbaum
(Albert Einstein-Gymnasium Maintal)
Ute Trautwein
(Elisabethschule Marburg)
Andrea Maas
(Ricarda Huch-Schule Gießen)
Merve-Esra Kılıçaslan
(Berufliche Schulen Korbach)
Paula Hovy-Neddermeyer
(Lichtenbergschule Darmstadt)
Erst im Anhang dieses Buches kann man, und dies auf besonderen Wunsch der Teilnehmenden, in der Übersicht alle SchreibKünstlerinnen und -Künstler ihren Schulen und Coaches zuordnen.
Ich wünsche allen Leserinnen und Lesern viel Spaß beim Blättern und Schmökern. Aber Vorsicht! Wenn man einmal anfängt, an welcher Stelle auch immer, bleibt man gebannt.
Dr. Erika Schellenberger-Diederich
Landeskoordinatorin Literatur
Büro Kulturelle Bildung des Hessischen Ministeriums
für Kultus, Bildung und Chancen
Im August 2024weiterlesen
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