Nachhilfe – empirische Befunde, Desiderata und Entwicklungen
Produktform: Buch
In Arbeiten zu Nachhilfeunterricht (NU) wird regelmäßig Krüger (1977, S. 545) zitiert: „Nachhilfeunterricht gehört zu den vernachlässigten Gegenständen der erziehungswissenschaftlichen Diskussion“. Diese Position trifft heute nicht mehr zu. Es fällt dagegen auf, dass in den letzten Jahren die Publikationen zu Nachhilfe in Deutschland zugenommen haben: Nach einer Aufstellung von Mayr (2010) gibt es im deutschsprachigen Raum zwischen 1960-1980 gerade mal vier, zwischen 1980-2000 12 und zwischen 2000-2009 17 einschlägige Forschungsar-beiten zum Thema. Dieser Anstieg der Auseinandersetzung mit dem Thema mag damit zusammenhängen, dass einerseits das Bewusstsein gestiegen ist, Alternati-ven oder Ergänzungen zum Unterricht in der Regelschule anzugehen und ande-rerseits in der öffentlichen Aufmerksamkeit zunehmend kommerzielle Anbietern in den Fokus zu nehmen.
Über den deutschen Sprachraum hinaus ist Nachhilfe ein weltweites Phäno-men, wie die Forschungsarbeiten von Bray (2009) zeigen. Private Nachhilfe ist in der gesamten EU ein Thema, die in den meisten Mitgliedsländern beträchtlich zugenommen hat (vgl. Bray, 2011). Die Bezeichnung shadow education durch Bray kennzeichnet zugleich eine Situation, die einerseits mit Vorurteilen behaftet ist, anderseits aber auch wissenschaftlich gezielt durchforstet werden muss, um daraus Konsequenzen für eine Veränderung von Regelschule abzuleiten.
Wenn wir heute von Nachhilfe sprechen, so trifft die so genannte. klassische Definition nicht mehr zu, nach der es allein eng um eine Erfolgssicherung in be-stimmten Unterrichtsfächern geht. Denn von den Einzelpersonen sowie den Nachhilfe- oder Paukinstituten werden auch Angebote unterbreitet, die eine nachmittägliche Hausaufgabenbetreuung enthalten. Aus Kostengründen erfolgt zudem häufig anstelle des Einzelunterrichts das Lernen in Kleingruppen. Doh-men, Erbes, Fuchs und Günzel (2008) gehen von folgender Definition von Nach-hilfe aus: „Nachhilfe zielt auf die Verbesserung der schulischen Leistung, findet außerhalb und ergänzend zum Unterricht, meist regelmäßig und vorübergehend statt und wird privat bezahlt“ (S. 17). Das Kennzeichen der Bezahlung muss aber im Einzelfall nicht gegeben sein.
Relativ gut erforscht ist heute die Verbreitung von Nachhilfe – unterschiedliche Überblicksarbeiten kommen zu vergleichbaren Ergebnissen (vgl. im folgenden Dohmen et al., 2008; Haag, 2010): Jeder dritte bis vierte Schüler hat im Lauf sei-ner Schullaufbahn Nachhilfe erhalten. Dabei ist Mathematik fast immer das am häufigsten gewählte Nachhilfefach, gefolgt von Englisch und Deutsch. Schwer-punktmäßig betroffen sind die Schülerinnen und Schüler der Sekundarstufe I, insbesondere in den Klassenstufen 8 bis 10.
Dagegen ist die Frage nach der Effizienz von Nachhilfeunterricht (NU) in der Literatur eher noch nicht beantwortet. Hauptmanko hierbei ist, dass nur wenige aktuelle Forschungsstudien methodischen Anforderungen wie einem längsschnitt-lich angelegten Kontroll-Gruppen-Design genügen können bzw. Betroffene ein-beziehen, die über eine längere Zeitspanne wissenschaftlich begleitet werden. Die bislang vorliegenden Ergebnisse sind wegen unterschiedlicher Randbedingungen der betreffenden Studien kaum vergleichbar. Teilweise wird noch nicht einmal deutlich, woran die Wirksamkeit gemessen wird. Weiterhin wird der Begriff Nachhilfe unterschiedlich interpretiert, teilweise handelt es sich ausschließlich um Individualunterricht, teilweise werden Ergebnisse von Studien berichtet, bei denen Nachhilfe ausschließlich aus einer nachmittäglichen Hausaufgabenbetreuung be-steht.
Die vorliegenden Befunde deuten insgesamt an, dass NU positive Effekte ha-ben kann. Diese Resultate werden sich aber daran zu bemessen haben, ob die er-zielten Nachweise nicht nur kurzfristig erbracht werden. An dieser Messlatte wird keines der Nachhilfeinstitute und auch kein individueller Anbieter vorbei kom-men.
Dieser Band der Empirischen Pädagogik widmet sich dem Thema NU in einer sehr großen Breite und will zur Beantwortung von drei Hauptfragestellungen bei-tragen:
1) Gibt es Vorstellungen über ein globales (Wirk-)Modell, das diesen und künf-tigen Studien zugrunde gelegt werden kann? Welche substantiellen Bedin-gungen sind hierbei zu berücksichtigen?
2) Was wissen wir über NU?
3) Und: Welches Wissen müssen wir zukünftig besitzen, damit NU nicht als läs-tige Begleitung des Regelunterrichts vollzogen wird, sondern als Form der Kooperation betrachtet werden kann, die das Hauptziel verfolgt, den betroffenen Schülerinnen und Schülern die notwendige und zugleich zielgerichtete Förderung zuteilwerden zu lassen.
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