Die vierfache Evangelien-Überlieferung veranlasste seit dem 2. Jahrhundert wiederholt dazu, nach Unterschieden zwischen den vier Evangelien zu fragen. Gegner des Christentums nutzten die Differenzen und Widersprüche für ihre Angriffe auf das Christentum, so dass Verfechter des Viererkanons gezwungen waren, in exegetischen Abhandlungen die Widerspruchslosigkeit nach-zuweisen. Praktisch ließ sich der Nachweis durch Evangelienharmonien erbringen, in denen aus vier Evangelien ein einziges Evangelium hergestellt wurde. Beide Möglichkeiten wurden auch im Mittelalter wahrgenommen. Thomas von Aquin beispielsweise weist Einwände gegen die Einheit der Evangelien als Exeget zurück, andere Verfasser und Übersetzer betätigen sich als Harmo-nisten.
Deutschsprachige Evangelienharmonien entstanden seit dem 9. Jahrhundert. Sie umfassen in der Regel das ganze Leben Jesu von der Kindheitsgeschichte bis zur Himmelfahrt. Demgegen-über beschäftigt sich die Passionsharmonie ausschließlich mit dem Leiden und Sterben Jesu. Das Interesse daran erstarkt zeitgleich mit der allgemeinen Fokussierung auf die Passion Christi im 14. Jahrhundert und erreicht im 15. Jahrhundert ihren Höhepunkt. Die Fülle der Texte ist bis-lang nicht bekannt und nur wenige Passionsharmonien sind in Editionen zugänglich. Eine Studie, die mehrere Werke aus Handschriften abdruckt, Auskunft über die Verschiedenheit gibt und ei-nen grundlegenden Einblick in diese Gattung gewährt, ist daher ein Desiderat der Forschung.
Das vorliegende Buch soll diese Lücke schließen, indem acht unterschiedliche Passionsharmo-nien aus dem 14. und 15. Jahrhundert in lesbaren Abdrucken präsentiert werden. Durch den Einbezug von zwanzig weiteren Evangelien- und Passionsharmonien, die in Ausgaben, Hand-schriften und Drucken vorliegen, ist es möglich, die Vielfalt der Vorgehensweisen in der Harmo-nisierung aufzuzeigen. Die Gegenüberstellung von einzelnen Aussagen und entsprechenden Passagen aus dreißig Passionsdarstellungen und anderen Werken des Mittelalters veranschau-licht, inwiefern die Passionsharmonien mit der zeitgenössischen Passionsliteratur korrespondie-ren.weiterlesen