Places Without Noise
Produktform: Buch / Einband - flex.(Paperback)
Rasender Stillstand im schalltoten Raum
Über die Serie „Places Without Noise“ des Fotografen David Canavate
Thomas Miessgang
Im Vordergrund grünes Gestrüpp, dahinter dehnt sich eine karge Steppenlandschaft, die von einer Hügelkette begrenzt wird. Im oberen Drittel dräut eine dramatische Wolkenlandschaft, die dem Foto etwas Altmeisterliches, um nicht zu sagen Alttestamentarisches verleiht.
Oder: Das schmale Band der Fahrbahn einer Autostrada, auf dem ein Zweig mit schon leicht vergilbten Blättern liegt - als sei er durch einen Sturm von den Bäumen gerissen worden, die den Asphaltstreifen säumen. Man mag darin vielleicht eine Metapher für eine reaktive Natur sehen, die sich Zivilisationsräume zurückerobern möchte.
Oder: Das rotviolett gefärbte Heck eines LKW, das sich formatfüllend über die Bildfläche erstreckt, so dass man gerade noch ein paar Gewächse hinter der Leitplanke sehen kann. Rotes Rechteck auf undefinierbarem Grund, suprematistische Ekstase im Zustand des rasenden Stillstandes, geräuschloser Motorenlärm, durch die Filterfunktionen einer anechoischen Kammer ruhiggestellt.
5000 Tableaux dieser Art mit unterschiedlichsten Motiven hat der Fotograf David Cañavate während einer 2000 Kilometer langen Fahrt auf der Autobahn geschaffen. Durch die Einstellung der Belichtungszeit auf die maximale Verschluss-Geschwindigkeit erscheinen die Bilder eben nicht verwischt und verhuscht wie man erwarten würde, sondern sie manifestieren sich gestochen scharf als Zufallsausrisse aus der Kontinuität der existentiellen Abläufe und enthüllen Sachverhalte, die der dokumentierende Beobachter so nie wahrgenommen hat, da sie blitzschnell von anderen Eindrücken überlagert wurden. Das, was der Fall zu sein scheint, gibt sich in der apparativen Stillstellung als etwas Anderes zu erkennen. Statt der vermeintlichen Sinnesgewissheit, die der Blick aus dem fahrenden Auto zu garantieren verspricht, enthüllt die zeitliche Mikrokalibrierung alternative facts.
Fast zwangsläufig denkt man an den Film „Blow Up“ von Michelangelo Antonioni, in dem der Modefotograf Thomas beim Vergrößern eines selbst geschossenen Fotos von einem Liebespaar abseits im Gebüsch einen Mann mit einer Pistole entdeckt. Ihm drängt sich der unangenehme Verdacht auf, dass er einen Mord fotografiert haben könnte. Ähnlich ergeht es dem Betrachter bei der genauen Observation jener visuellen Konfigurationen, welche die Kamera dem in Sekundenbruchteilen sich vollziehenden Ablauf der Ereignisse entrissen hat: Eine Siedlung von Einfamilienhäusern wirkt auf den ersten Blick so banal und harmlos, dass sich dahinter ein schmutziges Geheimnis einfach verbergen muss. Und das Foto einer Überführung, zu der im Bogen eine Straße hinführt, entfaltet in seiner menschenleeren und autolosen Grandeur eine so starke Suggestion, dass man sich in ein halluzinatorisches Alphaville versetzt fühlt. Zahlreiche dieser fast aleatorisch aus dem Zeitstrom gefischten Bilder wirken mit ihrer sorgfältigen Cadrage wie Gemälde, scheinen kein Vorher und Nachher zu kennen und genügen sich selbst in kompositorischer Finesse und sorgfältiger farblicher Graduierung. Fotografie als Medium zur Herstellung von Welthaltigkeit – wenn auch als kontinuierlich sich fortschreibende Sequenz von Fragmenten, die durch die Absenz der „Tonspur“ eine besondere Form von Contemplatio ermöglichen. „Unterwegs auf einer lärmenden Autobahn mit Tempo null und mit null Db.“ schreibt David Cañavate.
Paul Virilio, der Philosoph der Geschwindigkeit, hat in seinen Büchern der ´Welt` einen Schwund im Erleben von zeitlicher und räumlicher Erfahrung diagnostiziert. Mit jedem Sprung in der Entwicklung der Fortbewegungstechnik moderner Transportmittel erhöht sich die Geschwindigkeit und verringern sich Raum- und Zeitdistanzen. Dem Autofahrer bieten sich nur noch verwischte und verwaschene Bilder, die auf ihn zu und an ihm vorbei stürzen. Die vom Vehikel "durchbohrte", durch gestiegene technische Potenzen gewissermaßen "vergewaltigte" Umgebung verliert ihre visuellen, taktilen, akustischen und olfaktorischen Qualitäten.
Die Welt steuert somit, folgt man Virilios Gedankenspielen, auf eine Art Urknall der Ereignissimultaneitäten zu. Im Gegensatz zu solchen Zeit- und Raumrafferphantasien setzt David Cañavate seine Philosophie des temporalen und topographischen Stretchings: In der Entzerrung einer sich überschlagenden Wirklichkeitserfahrung wächst eine Multitude von Narrativen, die sich dem interesselosen Wohlgefallen als Zufallsverknüpfung von Mikro-Erzählungen darbietet: Eine Straße ist eine Straße ist eine Straße. Oder: Wenn einer eine Reise tut, dann kann der Passagier ohne Passage zwar nichts mehr erzählen, aber er kann als Bewältiger des „ökonomischen Zeitschlauchs Autobahn“ die alternative Route der Verschwendung von Zeit und Raum in der Bilderproliferation wählen. Wobei diese Häufung von visuellen Impressionen eben nichts mit der rasenden, unaufhörlichen Ankunft der Bilder aus den „statischen Vehikeln“ (Virilio) der audiovisuellen Medien zu tun hat, sondern eine, der allgemeinen Akzeleration abgezweckte Wiederentdeckung der Langsamkeit ist.
In der Literatur hat der amerikanische Autor Nicholson Baker das hypothetische Szenario des Ausstiegs aus Seinskontinuitäten schon vor zwanzig Jahren beschrieben: In seinem Roman „Die Fermate“ kann die Hauptfigur Arno Strine, durch ein Fingerschnippen, ein Heraufschieben der Brille und andere Gesten die Zeit anhalten, respektive sie für ihn und seine Aktionen durchlässig machen. In diesem Text, der aufgrund expliziter sexueller Darstellungen seinerzeit kontroversiell diskutiert wurde, findet sich eine Passage, die auf geradezu unheimliche Weise schon das Projekt des David Cañavate vorauszuahnen scheint: „Die Stille war weit davon entfernt, unheimlich oder verstörend zu sein, sondern, wie ich fand, ganz gemütlich. ... Als ich behutsam auf der Autobahn aus dem eben noch fahrenden Auto ausstieg, merkte ich, dass der Asphalt unter meinen Füßen sogar etwas federte; seine Geschwindigkeit meinen Schuhsohlen gegenüber macht es den beiden Flächen offenbar unmöglich, normal zu interagieren, und verlieh der Straße die Eigenschaften eines irgendwie dichten, ja, schwammigen Bodenbelags, wie Moos.“
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