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Porträt des Nationalsozialismus

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Die Machtübernahme der Nazis am 30. Januar 1933 markiert einen schrecklichen Wendepunkt in der Geschichte des 20. Jahrhunderts. Er führte zu den schlimmsten Verbrechen der Menschheitsgeschichte: dem Nazi-Terror, der bis ins Detail organisierten Vernichtung von sechs Millionen Juden und dem barbarischen Vernichtungskrieg gegen Ost- und Südosteuropa. Die Arbeiterbewegung wurde atomisiert, die Blüte von Kunst und Kultur zerstört. Die Folgen dieses Vernichtungsfeldzugs sind noch heute allgegenwärtig. Die Schriften Leo Trotzkis über Deutschland, die wir hier in einer erweiterten Auswahl veröffentlichen, bieten ein unvergleichliches Verständnis der Vorgänge und Dynamiken, die in diese Katastrophe geführt haben. Der berühmte Kriegsgegner und Schriftsteller Kurt Tucholsky äußerte seine Bewunderung, dass Trotzki in seinem Exil auf Prinkipo, 2000 Kilometer von Berlin entfernt, einen klareren Blick auf die Ereignisse in Deutschland hatte als jeder seiner Zeitgenossen. »Porträt des Nationalsozialismus« bezeichnete er als »Meisterleistung«, in der »alles, aber auch alles drin« stehe. Auch Bertolt Brecht soll laut Walter Benjamin im Frühjahr 1931 erklärt haben, »dass Trotzki der größte lebende Schriftsteller von Europa wäre«. Der britische Historiker E. H. Carr widmete Trotzkis Schriften über Deutschland in seinem Werk »Twilight of the Comintern« einen eigenen Anhang und führte aus: »Trotzki schrieb während der Periode von Hitlers Aufstieg zur Macht so beharrlich und so überwiegend weitsichtige Kommentare über die Entwicklung in Deutschland, dass die Erinnerung daran gewahrt bleiben muss.« Doch Trotzkis Schriften sind nicht nur eine literarische Meisterleistung und unübertroffene Analyse der geschichtlichen Entwicklung, sie sind selbst Teil dieser Geschichte. Trotzki schrieb in seinen Artikeln und Pamphleten unermüdlich gegen die verhängnisvolle Politik der stalinistischen und sozialdemokratischen Bürokratien an und bewaffnete die Arbeiterklasse mit einer Perspektive zum Kampf gegen den Faschismus. Die Lektüre dieser Texte zeigt erst das ganze Potenzial der Situation und macht klar: Hitler hätte gestoppt und die Katastrophe verhindert werden können. Man kann daher »Trotzkis Worte nicht ohne Erbitterung über das Ausmaß der Verluste und die Vergeudung lesen«, stellt David North treffend fest. »Wie viel Leid und Elend hätte vermieden werden können, wie anders hätte das 20. Jahrhundert verlaufen können, wenn sich die Politik Trotzkis, die Politik des revolutionären Marxismus durchgesetzt hätte.« North antwortet mit diesen Zeilen auf den Historiker Eric Hobsbawm, der die verheerende Politik der Stalinisten und ihre historischen Verbrechen angesichts der objektiven Bedingungen in der Sowjetunion für alternativlos erklärt. Hobsbawm verwandelt die Analyse der sozioökonomischen Prozesse und der Klassendynamik in eine reine Apologetik des Bestehenden. Für Marxisten ist diese Analyse hingegen immer die Grundlage für eine Intervention in die politische Situation, um die Arbeiter zum unabhängigen Handeln zu befähigen. Diese marxistische Herangehensweise wird in den vorliegenden Schriften zu unvergleichlicher Meisterschaft getrieben. Trotzki verkörpert eine Tradition des Marxismus, gegen die sich der ganze Terror der stalinistischen Bürokratie und der faschistischen Schergen richtete. Er hatte die russische Oktoberrevolution mit der Perspektive der permanenten Revolution theoretisch vorbereitet und war neben Lenin ihr wichtigster Führer. Als Befehlshaber der Roten Armee verteidigte er den ersten Arbeiterstaat nicht nur militärisch gegen die Reaktion, sondern vor allem auch politisch und kulturell. Als die stalinistische Bürokratie in der Sowjetunion das Erbe der Revolution verriet und ihr Terrorregime errichtete, verteidigte Trotzki die sozialistischen Prinzipien des Internationalismus und der Arbeiterdemokratie. Während die Stalin-Fraktion in wachsendem Maße die engstirnigen, nationalen Interessen der Bürokratie in der Sowjetunion zum Ausdruck brachte, ging Trotzki jede Frage des Klassenkampfs und der internationalen Politik vom Standpunkt der sozialistischen Weltrevolution an. Für ihn war die entscheidende Frage, welche politische Linie in der Lage ist, das Bewusstsein der Arbeiterklasse zu entwickeln und auf die Höhe ihrer historischen Aufgaben zu bringen. Das gilt in besonderem Maße für die vorliegenden Schriften. Als Marxist verstand Trotzki den Faschismus aus der Klassendynamik der kapitalistischen Gesellschaft heraus. »Die Reihe ist ans faschistische Regime gekommen, sobald die ›normalen‹ militärisch-polizeilichen Mittel der bürgerlichen Diktatur mitsamt ihrer parlamentarischen Hülle für die Erhaltung des Gleichgewichts der Gesellschaft nicht mehr ausreichen«, schrieb er im Januar 1932 in »Was nun?«. »Durch die faschistische Agentur setzt das Kapital die Massen des verdummten Kleinbürgertums in Bewegung, die Banden deklassierter, demoralisierter Lumpenproletarier und all die zahllosen Menschenexistenzen, die das gleiche Finanzkapital in Verzweiflung und Elend gestürzt hat.« Die deutschen Kapitalisten brauchten die Faschisten, um die mächtigen Arbeiterorganisationen zu zerschlagen. Denn nur so konnten sie Deutschland nach den Schrecken des Ersten Weltkriegs für einen neuen Krieg rüsten. Der Vernichtungskrieg der Nazis, der insgesamt 80 Millionen Menschen das Leben kostete, war nicht einfach das Ergebnis von Hitlers Größenwahn, vielmehr war Hitler das Ergebnis der Bestrebungen der herrschenden Klasse, die Niederlage wettzumachen und Europa unter deutscher Führung zu organisieren. Der deutsche Kapitalismus, schrieb Trotzki, »ist der fortgeschrittenste Kapitalismus unter den Bedingungen der europäischen Ausweglosigkeit. Je größer die den Produktivkräften Deutschlands innewohnende dynamische Kraft, umso mehr muss Europas Staatensystem an ihnen würgen, das dem Käfigsystem einer zusammengeschrumpften Provinzmenagerie gleicht. Jede Konjunkturschwankung stellt den deutschen Kapitalismus vor eben die Aufgaben, die er durch den Krieg zu lösen versucht hatte.« Wir haben dieser erweiterten Auflage den Text »Nation und Weltwirtschaft« hinzugefügt, in dem Trotzki die Grundlage für Weltkrieg und Faschismus in brillanten Worten auf den Begriff bringt. Im unlösbaren Widerspruch zwischen globaler Integration der kapitalistischen Wirtschaft und der Organisation des Kapitalismus in Nationalstaaten kann jeder Schritt zur nationalen Autarkie, zur Entflechtung der Abhängigkeiten nur die Inkubation für umso heftigere internationale Konflikte sein. »Versuche, die Wirtschaft zu retten, indem man sie mit dem Leichengift des Nationalismus impft, führen zu jener Blutvergiftung, welche den Namen Faschismus trägt.« Die Parallelen zur heutigen Entwicklung sind augenfällig. Die Versuche der westlichen Länder, sich wirtschaftlich unabhängig von russischen Bodenschätzen und chinesischer Produktion zu machen, können nur als Vorbereitung des Weltkriegs verstanden werden. Denn der technisch hoch entwickelte Kapitalismus braucht die Produktivkräfte der ganzen Welt, und jede imperialistische Großmacht strebt danach, sie nach ihren Bedürfnissen zu organisieren. In Trotzkis Schriften ist diese glasklare Analyse Teil der politischen Intervention. Der Kontrast zu all den Büchern, die nach dem Zweiten Weltkrieg geschrieben wurden, um die Unvermeidlichkeit des faschistischen Aufstiegs nachzuweisen, könnte größer nicht sein. Während Trotzki ein Programm zum Kampf gegen den Faschismus entwarf, sind diese Schriften darauf ausgelegt, die Verantwortung von Sozialdemokratie und Stalinismus zu vertuschen oder gleich die Wurzel des Faschismus im kapitalistischen System zu leugnen. Historiker wie Daniel Goldhagen oder Götz Aly eliminieren zu diesem Zweck die schroffe Klassenspaltung der kapitalistischen Gesellschaft und suchen die Ursache des Faschismus im »ganz gewöhnlichen Deutschen« bzw. »Hitlers Volksstaat« . Der Psychoanalytiker Wilhelm Reich bezeichnete den Faschismus kurz nach dessen Machtübernahme als »die emotionelle Grundhaltung des autoritär unterdrückten Menschen der maschinellen Zivilisation und ihrer mechanistisch-mystischen Lebensauffassung«. Die Arbeiterparteien hätten es nicht vermocht, ihrerseits an die unterdrückten sexuellen Triebe zu appellieren und dem Faschismus deshalb nichts entgegenzusetzen gehabt. Die Vertreter der Frankfurter Schule Theodor Adorno und Max Horkheimer entwickelten diese Konzeption weiter und machten sie zum ideologischen Fundament der Bundesrepublik. Auch sie sahen im »autoritären Charakter« die Grundlage des Faschismus und machten dafür die Aufklärung und die zivilisatorische Entwicklung selbst verantwortlich. Angesichts der modernen Arbeitsteilung ähnele sie die Erfahrungswelt der Arbeiter »tendenziell wieder der der Lurche an«, schreiben sie in »Dialektik der Aufklärung«. Daraus ergäbe sich die »rätselhafte Bereitschaft der technologisch erzogenen Massen, in den Bann eines jeglichen Despotismus zu geraten«, und deren »selbstzerstörerische Affinität zur völkischen Paranoia«. »Die Ohnmacht der Arbeiter«, schlussfolgern sie, »ist nicht bloß eine Finte der Herrschenden, sondern die logische Konsequenz der Industriegesellschaft.« Die Quintessenz dieser Ablehnung der revolutionären Rolle der Arbeiterklasse ist der tiefe Pessimismus, der die Frankfurter Schule auszeichnet und der die Grundlage für ihr Arrangement mit dem naziverseuchten Nachkriegsdeutschland bildete ...weiterlesen

Dieser Artikel gehört zu den folgenden Serien

Elektronisches Format: PDF

Sprache(n): Deutsch

ISBN: 978-3-88634-947-0 / 978-3886349470 / 9783886349470

Verlag: MEHRING Verlag

Erscheinungsdatum: 01.11.2023

Seiten: 504

Auflage: 2

Autor(en): Leo Trotzki

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