Prekäre Selbst-Bezeugung
Die erschütterte Wer-Frage im Horizont der Moderne
Produktform: Buch / Einband - fest (Hardcover)
Wir wissen nicht, wer wir morgen sein werden. Es kommt
darauf scheinbar auch gar nicht besonders an, da wir uns
in Wahrheit vor allem darum sorgen sollten, dass wir
Andere werden (Foucault, Rorty), wenn es stimmt, dass
wir in einer Zeit leben, der unaufhebbare Fremdheit auszugehen
droht, ohne die unser Leben in einer grotesken
Normalisierung verkümmern müsste.
Dem steht ein für das Schicksal der Wer-Frage im Horizont
der Moderne entscheidender Gedanke entgegen: Das
Selbst als Antwort auf die Frage, wer wir sind, ist keine
Frage des Wissens oder unabsehbaren Anderswerdens,
sondern eine Angelegenheit der Bezeugung. Es ist radikal
darauf angewiesen, sich als bezeugtes zu zeigen, ohne darin
je einen Beweis dafür liefern zu können, wer es ist. Im
Gegenteil: je mehr es sich – etwa in einer forcierten Rhetorik
des Vertrauens – als 'integres' zu beweisen suchte,
desto fragwürdiger müsste es erscheinen.
Das gilt auch für die Öffnung zum Anspruch des Anderen
hin, auf die man in der Archäologie des Selbst gestoßen
ist. Dort ist kein fester Grund zu finden, und das Selbst
beherrscht sich nicht wie ein Souverän. Zugespitzt könnte
man sagen, dass man das Selbst in den nach Heidegger
hervorgetretenen Theorien geradezu an-archistisch
denkt.
Unzweifelhaft ist das bei Levinas und Derrida der Fall,
die die Suche nach einem letztlich begründeten Selbstsein
aufgegeben und stattdessen danach geforscht haben, wie
es sich in unvermeidlicher Nachträglichkeit einer ihm
immer schon uneinholbar voraus liegenden Fremdheit
überantwortet findet. Während Levinas darauf vertraut,
in dieser Fremdheit auf die Spur eines unabdingbaren
ethischen Anspruchs des Anderen zu stoßen, wecken die
wesentlich von ihm angeregten Auseinandersetzungen mit
dem Phänomen des Anspruchs von Derrida und Blanchot
über Lyotard bis hin zu Waldenfels, Rancière u.a. energische
Zweifel an dieser Aussicht.
Bestritten wird, dass sich dem Anspruch des Anderen
ohne weiteres ein eindeutiger ethischer oder politischer
Sinn entnehmen lässt. Wozu wir uns herausgefordert erfahren,
um darin zu bezeugen, wer wir sind, geht niemals
eindeutig aus einem vorgängigen Anspruch hervor, so
sehr v.a. Levinas und Derrida dies nahezulegen scheinen.
Auch sie sind sich aber dessen bewusst, dass sie diesen Anspruch,
den sie in der europäischen Gewaltgeschichte auf
katastrophale Art und Weise verletzt gesehen haben, einer
radikalen und liberalen Demokratie einschreiben müssen,
in der nach der Überzeugung vieler ein Anspruch, der als
wahr gelten dürfte, gar keinen Platz mehr haben darf.
Auch ein als gerecht eingestufter Anspruch des Anderen,
dem wir beipflichten, entbindet nicht vom Widerstreit
zwischen diversen Ansprüchen, die miteinander in Konflikt
geraten können. Erst in den Spielräumen unseres
Verhaltens, die sich uns gerade dadurch eröffnen, kann
Gestalt annehmen, wer wir sind.
Infolgedessen stellt sich die Frage neu, ob und wie es
möglich ist, das prekäre menschliche Selbst einerseits als
radikal für den Anspruch des Anderen aufgeschlossenes
zu verstehen und ihm andererseits abzuverlangen, diese
gastliche Aufgeschlossenheit zur zentralen Aufgabe sozialer
und politischer Lebensformen zu machen, ohne sich
identitär dieser Aufgabe zu bemächtigen.weiterlesen
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