»Medizinisch gesprochen, kann die Deutung zwar Prognose und Diagnose, aber sie kann kein Rezept geben. Es fragt sich (...), was überhaupt von der Deutung erwartet werden darf. Sie mag entbehrlich scheinen, wenn sie nichts ändern oder bessern kann, bedenklich sogar, indem sie unabänderliches anleuchtet. Das führt dann zu der Frage, warum ein so starkes Bedürfnis nach Deutung besteht. Wie jedes Bedürfnis, ist auch dieses ein Ausdruck der Unzufriedenheit. Es entspringt der Vermutung, daß ein Ergänzendes hinzutreten müßte, damit das Spiel seine Bedeutung erhält. In diesem Sinn ist der Deutende der Hinzutretende, der zwar nichts ändert, aber Sicherheit verleiht. Je mehr der Umsatz, der Umtrieb zunimmt, je mehr das Leben großstädtisch, technisch-abstrakt wird, desto stärker muß dies Anliegen hervortreten. Das wird besonders dann der Fall sein, wenn es zu Krisen oder gar zu Katastrophen kommt, angesichts deren der technische Optimismus bedroht wird oder zusammenbricht. Dann fühlt der Mensch sich einer Deutung bedürftig, eines Hinweises auf Mächte, die außerhalb der Zirkulation liegen.«
(Ernst Jünger, An der Zeitmauer)weiterlesen