Wie und wo hat die Pathognostik von Rudolf Heinz konkret und gesellschaftlich relevant Platz genommen? Antwort auf diese Frage geben die Beiträge dieses Buches. Es lassen sich zwei große Gruppen erkennen: Philosophische Theorie und Klinische Praxis respektive Gedanke (des Symptoms) und Symptom (des Gedankens) oder Philosophie und Psychoanalyse/Psychiatrie. Die beiden genannten Gruppen stehen sich nicht isoliert gegenüber, sondern sind durchweg einander vermittelt. Das zeigt sich auch in der Hinsicht auf die einzelnen Beiträge, in denen die Autoren sich in Bezug zum Denken und zur klinischen Praxis von Rudolf Heinz setzen, zur Frage „Psychoanalyse – und wie anders?“. Angemessenerweise ist der Text, den Rudolf Heinz 1987/1990 unter diesem Titel veröffentlichte, diesen Beiträgen folgend vorangestellt. Welche Bezüge nehmen die Beiträge auf?
Wolfgang Tress handelt über die „unbewussten Intimformen der Macht-Ohmacht-Dialektik“ in psychotherapeutischen Verfahren und plädiert hinsichtlich des Therapeuten für die „bewusste Ausübung von Macht im Wissen um die Wahrscheinlichkeit unseres Schei-terns, die Trauer in Verbundenheit mit dem Willen zum ständigen Neubeginn voller Erinnerungen“.
Wolfgang Pircher stellt Freud als einen Konstrukteur vor, der sich technischer Darstellungsformen bediente, um einen Apparat zu rekonstruieren, den er nicht konstruiert hat. Freud begreife die Natur nach dem Schema der Technik und bleibe seinem Selbstverständnis nach Naturwissenschaftler, der nichts Neues konstruiert, sondern das bereits Gegebene neu interpretiert. Dergestalt erweise sich die Psychoanalyse nicht als bloße Ingenieurskunst, denn sie habe es nicht mit erfundenen, neu konstruierten Seelenapparaten zu tun.
André Karger gibt „pathognostische Bekenntnisse“ ab: zu seinem Lehrer Rudolf Heinz „der die Radikalität des Denkens mit systema-tischer Genauigkeit betreibt und die Logik versucht mit ihren eige-nen Mitteln in sich hinein zu treiben und inzestuös mit sich kurz zu schließen. der gegen den Strich denkt und subversiv in der Institu-tion der Universität dieselbe unterläuft, in dem er für produktive Erschütterungen und Unruhe sorgt. der mit seiner Theorie den unbedingten Anspruch politischer Praxis verbindet“; sowie zur Pathognostik: „Die von der Pathognostik vollzogene Rückwendung auf die Psychoanalyse bezweckt nichts anderes, als die in Psychoanalyse von ihr bereitgestellten Mittel der Metapsychologie, ihre Konzepte, wieder zu entdecken und intellektuell gestrafft, objektivitätserweitert, zur Anwendung zu bringen.“
Der Verein Unart e. V. hat, seinem Genre gemäß, Bilder aus der Supervision mitgebracht.
Christan Benz hebt die besonderen Erfahrungen der Supervision mit Rudolf Heinz hervor, durch den die Philosophie im psychoanalytischen Kontext der Klinik gewinnbringend Platz nahm, so dass „eine diagnostische Sicht mit einem erweiterten Blickwinkel zu bewerkstelligen“ war.
Paul Reichartz skizziert die vielfältigen Ebenen der Beziehung zu Rudolf Heinz und zur Pathognostik aus den Perspektiven des Stifters und Förderers, des Ökonomen, des Schülers und praktischen „Laien-Pathognostikers“, um schließlich auf Rudolf Heinz hin die Frage zu formulieren: Was haben Sie davon?
Olaf Knellessen grüßt aus Zürich mit dem Titel You only live twice, nicht zuletzt, um diesen im Verlauf des Grußes zu ändern in: „You Not only live Twice!“ Denn: „Für soviel Interessen, für soviel Geist, für soviel Wissen kann ein Leben gar nicht reichen.“
Volker Kalisch trägt Musikalische Irritationen für einen Philosophen bei, berichtet über die Erfahrungen gemeinsamer Veranstaltungen mit Rudolf Heinz und schließt daran Ausführungen zur Musik. Wie kaum etwas anderes vermöchte die Musik – zumal den auf den Begriff konzentrierten Philosophen – erschüttern, ergreifen, irritieren. Begriffliches Verstehen setzt Kalisch als eine Abstraktionsleistung vom expressiven Verlauten ab, das unmittelbar das Innere des Menschen nach außen tönen ließe.
Claus-Artur Scheier hebt in seinem Beitrag Die Geburt des Phonozentrismus aus dem Geiste der Schopenhauer’schen Sexualität auf das Ende der Metaphysik ab, das er im 19. Jahrhundert datiert und an den Übergang von der Copula zur Funktion bindet. Scheier betont, dass das 19. Jahrhundert damit beschäftigt war, sich der Identität von Willens- und Vorstellungsfunktion – bei Schopenhauer ausgedrückt in der Stimme als der absoluten Copula von Wille und Vorstellung – als der ursprünglichen, jetzt als menschlich gedachten Produktivität, im Sinne der Schopenhauer’schen Sexualität, zu versichern, und dass insofern auch vom Psychologismus wie vom Phonozentrismus als einem Phänomen nicht der (Epoche der) Metaphysik, sondern der Moderne zu sprechen sei.
Petra Maria Meyer handelt von der agierenden Vergangenheit im Traum und bedenkt hierzu Andrej Tarkowskijs Film Zerkalo / Der Spiegel mit Henri Bergson. So vermag sie Nähen und Differenzen hervorzuheben und anzudeuten, die zwischen dem filmischen Bedenken und Inszenieren von Andrej Tarkowskij, der Bild-, Zeit- und Gedächtnis-Philosophie Henri Bergsons und der Pathognostik von Rudolf Heinz liegen.
Axel Schünemann stellt mit Somnium heinzianum die pathognostische Deutung eines Traumes vor, in welchem Rudolf Heinz genannt wird, aber nicht in die Sicht des Träumers tritt. Diese Traumdeutung entfaltet sich in ihrem Verlauf als eine Durchsicht zentraler Aspekte der von Rudolf Heinz vorgelegten pathognostischen Theorie.
Kerstin Keßler greift den Titel Psychoanalyse – und wie anders? unter dem Aspekt der Geschlechterdifferenz auf. Sie geht davon aus, dass die Pathognostik die angemessene Antwort auf die gestellte Frage sei, fragt aber im Anschluss daran nach den Möglichkeiten einer der Geschlechterdifferenz angemessen prozedierenden philosophischen wie pathognostischen Praxis.
Stefan Artmanns Beitrag Das geistige Maschinenreich und der inszenierte Betrug oder die Sache selbst. Zur Phänomenologie der künstlichen Intelligenz konfrontiert die vernunftmetaphysische Version von Rationalitätsgenealogie der Hegel’schen Phänomenologie des Geistes mit intelligenten Maschinen. Er legt dar, dass Letztere den von Hegel beschriebenen Verstellungscharakter der instrumen-tellen Rationalität operationalisieren und diesen in ihrer Verfahrensweise offenlegen und ihn zugleich in einer Konjunktion empirischer Testkriterien für den Stand des technischen Fortschritts verschwinden lassen. Rationalitätsgenealogischer Fluchtpunkt ist ein Algorithmus zur Repräsentation paranoiden Sprechens, der die Heinz’sche Einsicht in die Erkenntnisförmigkeit von Krankheit auch im Stadium ihrer technischen Simulation belegt.
Christoph Weismüller diskutiert in seinem Beitrag Der Trieb der Dinge, eingeleitet durch die Frage nach der Möglichkeit der Zukunft und nach der von Rudolf Heinz proklamierten „letzten großen Anstrengung“ einer umfassenden Rationalitätsgenealogie, in welcher der Marxismus als Opfertheorie lesbar werden möge, das Verhältnis von Trieb und Ding.weiterlesen