Psychopathologie des Scheiterns in den Gedichtzyklen von Wilhelm Müller
Eine interdisziplinäre Studie
Produktform: Buch
Die beiden Gedichtzyklen von Wilhelm Müller, Die schöne Müllerin und Die Winterreise, in erster Linie bekannt durch Franz Schuberts Vertonungen, germanistisch jedoch nur spärlich rezipiert und beforscht, zeigen die Abkehr von der Tradition des romantischen Wanderzyklus hin zum Depersonalisierungsprozess einer sich anbahnenden Moderne. In der lebensfeindlichen Natur der Winterreise stoßen fatalistische Überlebenskonzepte auf eine immer stärker hervortretende Isolierung von der Gesellschaft und letztlich vom Selbst. Ist die Isolation zu Beginn der Winterreise bereits vollzogen, versinkt der Protagonist der Schönen Müllerin immer mehr in eine fehlgeleitete Absonderung, die nur psychopathologisch begründbar ist. Beide Zyklen verstehen sich somit als Absage an die romantische Naturästhetik.
Die vorliegende Abhandlung unterbreitet mehrere Deutungsangebote und vereint diese zu einer schlüssigen Gesamtschau der Zyklen. Zum einen wird mit Hilfe literaturwissenschaftlicher Untersuchungsperspektiven aufgezeigt, wie Zyklusdichtung und Einzelgedicht voneinander abhängen, welche inhaltliche und formale Kohärenz Teil und Ganzes miteinander verbindet, aber auch welche mikrokosmische Berechtigung das jeweilige Einzelgedicht besitzt.
Neben den genannten Aspekten ergibt sich der interdisziplinäre Ansatz auch aus der Auseinandersetzung mit der Entwicklung und Emanzipation des romantischen Lieds und der Ästhetik durchkonstruierter Liederzyklen. Informationen zu Schuberts Bearbeitungsabsichten ergänzen die Ausführungen.
Im Mittelpunkt der Abhandlung stehen die figurenpsychologischen, formalästhetischen und musikwissenschaftlichen Einzelinterpretationen der Gedichte von Die schöne Müllerin und Die Winterreise. Die 49 Gedichte der beiden Werke werden sowohl philologisch und zyklusästhetisch als auch psychoanalytisch erschlossen. Die traditionelle psychodynamische Sichtweise auf die Figuren wird jedoch durch eine modernere, phänomenologisch direkt am Kunstwerk erkennbare Aspektuierung ergänzt, die sich an den klinisch-psychopathologischen Störungsbildern der ICD-10 orientiert. Das Verhalten des Protagonisten der Schönen Müllerin kann einerseits mit der Limerenztheorie von Dorothy Tennov gedeutet werden, andererseits lässt sich die monodramatische Anlage dieses Zyklus mit Hilfe des Sterbephasen-Modells nach Elisabeth Kübler-Ross auffächern.
Somit entsteht eine sich durch Literatur- und Musikwissenschaft sowie Psychologie bzw. Psychiatrie ergänzende Gesamtbetrachtung, indem der traditionelle hermeneutische Kontext um essentielle zeitgemäße Aspekte erweitert wird.weiterlesen