Serhij Zhadan
Friedenspreis des deutschen Buchhandels 2022. Ansprachen aus Anlass der Verleihung
Produktform: Buch / Einband - fest (Hardcover)
Begründung der Jury
Den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels verleiht der Börsenverein im Jahr 2022 Serhij Zhadan. Wir ehren den ukrainischen Schriftsteller und Musiker für sein herausragendes künstlerisches Werk sowie für seine humanitäre Haltung, mit der er sich den Menschen im Krieg zuwendet und ihnen unter Einsatz seines Lebens hilft.
In seinen Romanen, Essays, Gedichten und Songtexten führt uns Serhij Zhadan in eine Welt, die große Umbrüche erfahren hat und zugleich von der Tradition lebt. Seine Texte erzählen, wie Krieg und Zerstörung in diese Welt einziehen und die Menschen erschüttern. Dabei findet der Schriftsteller eine eigene Sprache, die uns eindringlich und differenziert vor Augen führt, was viele lange nicht sehen wollten.
Nachdenklich und zuhörend, in poetischem und radikalem Ton erkundet Serhij Zhadan, wie die Menschen in der Ukraine trotz aller Gewalt versuchen, ein unabhängiges, von Frieden und Freiheit bestimmtes Leben zu führen.
Biographie
Serhij Zhadan, geboren am 23. August 1974 in Starobilsk im Gebiet Luhansk der (damaligen Sowjetrepublik) Ukraine, ist Schriftsteller, Übersetzer und Musiker. Er zählt zu den wichtigsten, innovativsten und bekanntesten Stimmen der ukrainischen Gegenwartsliteratur. Sein vielgestaltiges literarisches Werk setzt sich aus Romanen, Gedichten, Erzählungen, Reportagen und Essays zusammen und widmet sich insbesondere der Zeit nach dem Zerfall der Sowjetunion sowie dem seit 2014 in der Ukraine herrschenden Krieg. Schauplätze seiner Texte sind in erster Linie die Stadt Charkiw und die Ostukraine, für die er sich auch sozial und kulturell engagiert und angesichts des aktuellen Kriegs humanitäre Hilfe leistet. Obwohl in einer überwiegend russischsprachigen Gegend aufgewachsen, schreibt Zhadan auf Ukrainisch. Seine Bücher wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt und haben internationale Preise erhalten. Am 23. Oktober 2022 erhält der Schriftsteller den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels.
In Charkiw, der zweitgrößten Stadt der Ukraine, studiert Zhadan Literaturwissenschaft, Ukrainistik sowie Germanistik und promoviert 1996 mit einer Arbeit zum ukrainischen Futurismus. Er lehrt zunächst als Dozent an der Universität und beginnt dann als freischaffender Schriftsteller zu arbeiten. Schon Anfang der 1990er Jahre veröffentlicht er erste Gedichte, organisiert Literatur- und Musikfestivals und prägt die junge Kulturszene der Stadt. In seinen frühen literarischen Werken, wie in dem Romandebüt »Depeche Mode« (2007, Orig. 2004), setzt er sich mit der postsowjetischen Umbruchszeit auseinander und beschreibt den Versuch der Menschen, sich neu zu verorten. Sein dritter Roman »Die Erfindung des Jazz im Donbass« (2012, Org. 2010), eine Art Road-Novel, spielt im Industrierevier Donbass, das mit surrealen Elementen und einer anarchischen Erzählweise poetisch aufgeladen wird. Vor dem Hintergrund dieser fantastischen Landschaft begibt sich der Protagonist auf die Suche nach Heimat in einer zunehmend entgrenzten Welt. Die BBC wählt den Text 2014 zum »Buch des Jahrzehnts«.
In seinem 2015 auf Deutsch erschienene Roman »Mesopotamien« (Orig. 2014) porträtiert Zhadan in einer Melange aus Prosa und Lyrik seine Heimatstadt Charkiw, die im Buch als modernes Babylon erscheint. Zwei Flüsse trennen das ‚Zweistromland‘ in Ober- und Unterstadt. Während Krieg und Gewalt schwelen, kämpfen die hier lebenden Menschen um die eigene Existenz, sie werden getrieben von ihrer Sehnsucht nach Liebe, die sie der Hoffnungslosigkeit und dem Tod entgegensetzen.
Zhadans jüngster Roman »Internat« (2018, Orig. 2017), dessen Übersetzung mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet wurde, erzählt vom Krieg im Donbass. Hauptfigur ist ein Lehrer, der durch das Kriegsgebiet im Donezbecken reisen muss, um seinen Neffen aus dem Internat abzuholen. Sein Weg führt durch ein apokalyptisches Szenario. Im dichten Nebel gerät er immer wieder zwischen die Frontlinien und wird mit der Frage konfrontiert, ob man im Krieg neutral bleiben kann.
In seinen Gedichten und Erzählungen – beginnend mit dem Lyrikband »Die Geschichte der Kultur zu Anfang des Jahrhunderts« (2006, Orig. 2003) über »Hymne der demokratischen Jugend. Erzählungen« (2009, Orig. 2006) bis hin zu den empfindsamen Gedichten in »Antenne« (2020, Orig. 2018) – beweist Serhij Zhadan eine Vielstimmigkeit, die auch von seiner Nähe zur Musik geprägt ist. Punk und Poesie treffen aufeinander. Im Zentrum aber stehen immer die Menschen, vor allem die sogenannten Underdogs, die Unscheinbaren in ihrer Unterschiedlichkeit und Individualität. Sein konkreter, expressiver Ausdruck wird von der Kritik dabei genauso gelobt wie der zuweilen ironische Ton oder die dokumentarische Genauigkeit, die in seinen Texten zu finden sind.
Neben seiner schriftstellerischen Tätigkeit übersetzt Zhadan auch Lyrik aus dem Deutschen, Englischen, Belarussischen sowie aus dem Russischen. So überträgt er unter anderem die Gedichte Paul Celans und Charles Bukowskis ins Ukrainische. Darüber hinaus verfasst Zhadan Songtexte für verschiedene Rockbands, unter anderem für die Band »Zhadan & Sobaki« (»Zhadan und die Hunde«), mit der er seit 2007 als Sänger Musik macht. Nach der russischen Annexion der Halbinsel Krim 2014 und der Besetzung des Donbass reist er mit der Band durch das ukrainische Kriegsgebiet und spielt Konzerte für die Soldaten. Hatte er sich 2004 als Aktivist an der Orangenen Revolution beteiligt und 2013 die landesweiten Maidan-Proteste sowie die pro-europäische Bewegung unterstützt, so begleitet er seit Ausbruch des Kriegs 2014 humanitäre Hilfsgütertransporte in die Ostukraine. Er initiiert außerdem ein Projekt, das Bibliotheken in den Regionen Donezk und Luhansk mit Büchern versorgt und gründet 2017 eine Stiftung (Serhiy Zhadan Charitable Foundation), um Bildungs- und Kulturinitiativen in diesem Landesteil zu fördern.
Auch im Jahr 2022, nach dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine, setzt Zhadan sein kulturelles Engagement und seine humanitäre Hilfe fort: Er lebt weiterhin in Charkiw, spielt Konzerte in Metrostationen, holt Menschen aus stark umkämpften Vierteln heraus, liest Gedichte und verteilt Hilfsgüter in der Stadt. Seine in mehrere Sprachen übersetzten Artikel über die Situation in der Ukraine sind aktuelle Zeitdokumente darüber, wie die dort lebenden Menschen im Angesicht von Gewalt und Bedrohung versuchen, ihren Alltag zu organisieren.weiterlesen
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