Der vorliegende Band präsentiert sieben Lektüren von Conrad Ferdinand Meyers Die Richterin (1885). Der Literaturkritik und der Literaturwissenschaft, die das Werk diskutiert hat, ist es stets unbehaglich mit Meyers Novelle gewesen. Die Dokumente zur Entstehungsgeschichte weisen bereits auf einige Schwierigkeiten hin, die der Text aufwirft. Meyer schwankte nicht nur lange, an welchen Ort und in welche Zeit er die Handlung verlegen sollte, sondern zog auch die Form eines Dramas für seinen Stoff in Erwägung. Schließlich siedelte er die Handlung im Rätien zur Zeit Karls des Großen an und verknüpfte einen in der Vergangenheit verübten Gattenmord der Protagonistin, die als herrschende Richterin eine neue politische Ordnung errichten möchte, mit dem Motiv eines möglichen Geschwisterinzests in der nächsten Generation. Meyers Novelle formt aus seinem Stoff einen Komplex, in dem Unzusammengehöriges miteinander verflochten wird. Dieser Komplex lässt sich nicht auflösen, indem der Text etwa unter psychoanalytischen, literarischen oder auch ästhetischen Gesichtspunkten betrachtet wird. Die miteinander kommunizierenden Lektüren, die hier versammelt sind, versuchen den Komplex von verschiedenen Seiten aus zu beleuchten, ohne ihn nach einer Seite hin aufzulösen. Es werden keine erschöpfenden Analysen nach einer verallgemeinerbaren Methode oder modellhafte Interpretationen vorgelegt, sondern sieben Zugänge erprobt, die sich zwar kreuzen und aufeinander verweisen, aber jeweils spezifische Gesichtspunkte einnehmen und fragen, wie Erzählen und Gattungsform, Rhetorik, Performanz und ästhetische Strategien der Novelle mit ihren Themen zusammenhängen.
Mit Beiträgen von Maximilian Bergengruen, Michael Niehaus, Nicolas Pethes, Armin Schäfer, Peter Schnyder, Hubert Thüring und Christine Weder.weiterlesen