Smartphone-Storys
Erkundungen eines Phänomens. Eine Anthologie der Literaturgruppe POSEIDON. Herausgegeben von PH Gruner und Andreas Roß.
Produktform: Buch
Kurze Einführung ins Themenfeld der Smartphone-Storys
Die Generation Z ist 2023 in aller Munde. Im Grunde ist es die Generation Smartphone. Geboren zwischen 1995 und 2010, kann sie sich kaum ein Leben vorstellen ohne Smartphone. Oder sich vorstellen, wie es früher war. In der Generation Golf etwa. Sie scheint so weit weg wie die Renaissance.
Wie damals das Leben lief, erscheint tatsächlich jedem, der nicht dabei war, fremd. Wie war Leben damals überhaupt möglich? Telefonieren zum Beispiel. Brach man beim Drehen der ulkigen Wählscheiben ständig in Lachen aus? Fand man es appetitlich, speckige Telefonbücher durchzublättern, die sich in den gelben, roten oder grauen Häuschen mit einem Qua-
dratmeter Stellfläche befanden, Telefonzelle geheißen, nur um letztlich festzustellen, dass die Seite mit dem richtigen Namen und der passenden Nummer herausgerissen war? Ein Elend. Von den mit Kaugummi verschlossenen Münzschlitzen im Telefonzellen-Wählscheibenapparat oder von den Münzen, die durch ihn immer lotrecht hindurchfielen, gnädig zu schweigen. Oder wie fühlte es sich an, einen Straßenplan einer Stadt auf einem Quadratmeter Papier, kleingefaltet, in der Tasche zu haben statt eines flachen Dings, in dem alle Stadtpläne aller Städte aller Welt drin sind? Und alle Flugpläne und alle Fahrpläne und alle Hoteldaten dazu. Grob unglaubwürdig scheint auch, dass man 1990 nie, auf einer Parkbank zum Beispiel in Castrop-Rauxel sitzend, blitzschnell Texte und Fotos und Grafiken austauschen konnte mit einem Menschen, der zeitgleich auf einer Parkbank in Narvik, Nordnorwegen, saß.
So schnell kann es menschheitsgeschichtlich also gehen mit technischen Prozessen und Etappen, die zum schier Selbstverständlichen in der Grundausstattung des Lebens werden, ja die Qualität von Identität annehmen. Ein Buch mit Smartphone-Storys ist also kein Wunder. Das flache Wunderdings in der Tasche, meist permanent in der Hand, ist zu wichtig geworden. Es schwirren derartig viele Geschehnisse, Geschichten und Anekdoten rund um das Smartphone durch unsere Gesellschaft – von skurril über witzig über ärgerlich bis lebensgefährlich –, dass eine literarische Auseinandersetzung geradezu überfällig ist.
Ehrlich gesagt – der Band hätte auch anders betitelt werden können, zum Beispiel so: Das Smartphone als zentrales digitales Werkzeug der zivilisatorischen Moderne. Das Werkzeug würde so zwar exakt benannt, richtig, es wäre jedoch ein Sachbuch geworden. Als didaktisches Buch der mentalen Gesundheitsvorsorge hätte das Buch auch diesen Titel tragen können: Der Einfluss des Smartphones auf Intelligenz, Aufmerksamkeit und Gedächtnisleistungen. In diesem Falle wäre es ebenfalls ein Sachbuch geworden, in der thematischen Konzentration auf Kinder und Jugendliche sogar ein recht depressiv stimmendes. Und selbstverständlich, dritte Option, könnte es auch noch wie folgt reißerisch in großen Lettern auf dem Titel prangen: Deformierte Twitter-, Tiktok- und Facebook-Gehirne: Wie ständige digitale Mediennutzung das Denken verändert und die Demokratie gefährdet. Dies wäre das perfekte Buch für Kulturpessimisten, im Grunde sicher auch das erfolgreichste in der Vermarktung – wenn all die technikaffin intelligenten Kulturkritiker nicht gerade mit allen Fingern auf und allen Sinnen in ihren Smartphones wären.
Was auf Umwegen vermittelt: Selbstverständlich war und ist das Smartphone ein digitaltechnischer Sprung vorwärts sondergleichen. Kommunikation, mediale Unterhaltung und jedwede Datenübertragung wurden in Schnelligkeit und Präzision revolutioniert. Kein anderes Adjektiv passt hier besser. Zudem wird die Welt geschrumpft: Das Smartphone ist das Werkzeug einer erfahrbaren Globalität, das alles in den Schatten stellt, was je dem Menschen so leicht und transportabel in Händen lag.
Aber ebenso selbstverständlich ist, dass die Autoren in diesem Band nicht die affirmative Lobpreisung im Sinne hatten, keine Elogen zum Wunderphone verfassen wollten und konnten. Das wäre im besseren Falle langweilig und vorhersehbar, mündete im schlechteren Fall in kritiklose Verabsolutierung. Kulturkritik blickt halt gerne auf die Schatten, die ein neues helles Licht so wirft. Es ist im Grunde wie in der Medizin oder im Journalismus: Mediziner schauen nicht nach den Gesunden und Starken und Schönen, sondern nach den Geschädigten und Kranken – und nicht zuletzt dem Krankmachenden. Im Journalismus wird auch nicht gemeldet, dass auf der Kreuzung X in Y-Stadt tagelang keinerlei Zwischen- oder Unfälle zu verzeichnen waren. Der Journalist meldet den Unfall. Und fragt nach dem Warum.
Sind wir als Autoren dieses Buches voreingenommen? Sind wir zu kritisch? Sehen wir das Smartphone zu einseitig? Vielleicht ist die Antwort ein Vergleich: Ähnlich würden die Autoren der Literaturgruppe POSEIDON nämlich auch über Automobile schreiben. Ja, unsere Autos. Deren Erfindung war schließlich ebenfalls eine Revolution, und auch sie verkürzte die Distanzen und schrumpfte, auf ihre Art, die Welt. Alltags- und kulturkritisch gesinnte Schriftsteller würden jedoch weniger Begeisterung regnen lassen über das Design, über Komfort, Antrieb und Schnelligkeit der Automobile, sondern sich dem Verbrauch von Ressourcen widmen, über Emissionen schreiben, über Bewegungsarmut und Verkehrstote, über den Flächenverbrauch von geparktem Blech auf Bürgersteigen – und damit ebenfalls wieder über die Schatten, die im Lichtkegel erst mal nicht zu sehen sind.
Mit dem Titel Smartphone-Storys machen sich Literaten zwar über das technische Gerät her, sie schildern, beschreiben, debattieren und problematisieren jedoch auch all jene Phänomene, die Teile der Gesellschaft gerne pauschal als digitale Modernisierung bezeichnen. Der Begriff versachlicht die epochemachende Wandlung, die mit dem Zaubergerät des Smartphones weltweit vollzogen wurde und wird, als auch die damit angestoßenen, im historischen Vergleich gesehen gravierenden Veränderungen des politschen, gesellschaftlichen, kommunikativen und gesamten zivilisatorischen Prozesses. Weil Schnelligkeit ja so viel gilt: Schnelligkeit ist im Bereich der Digitalität zu einem bipolaren Begriff geworden, zu einem Sehnsuchts- und Schreckensbegriff in einem: Jeder Bürger möchte seinen schnellen Amtstermin oder Zahnarzttermin buchen und die Kinokarte sofort ausdrucken. Viele Jugendliche indes werden bereits psychisch auffällig oder krank vor Angst, in den sozialen Netzwerken des digitalen Lebensraumes irgendetwas zu verpassen. Es geht alles so schnell und es ist alles so scheinbar und gleichzeitig wichtig, dass das Gerät kaum weggelegt und schon gar nicht mal temporär ausgeschaltet werden kann. „Süchtig nach dem Smartphone“ heißen daher Angebote von Drogenberatungsstellen in Deutschland. Das ist konsequent. Auch der religiös inspirierte Raum hat reagiert – mit angepassten neuen Angeboten in der Fastenzeit. Vor zwanzig Jahren wurde für den vierzigtägigen Zeitraum mit Verzichtsübungen zur Vorbereitung auf das Oster-Fest das sogenannte „Auto-Fasten“ propagiert. Es hob das Fasten in technische Sphären. Inzwischen steht auch das „Smartphone-Fasten“ auf dem Programm.
Lustig wird es im Netz dann, wenn Smartphonitis, die Droge und Erkrankung, via Smartphone diagnostiziert, erklärt und behandelt wird. „Ablenkungen aus dem Weg schaffen!“, rät etwa eine Plattform, und zwar so: „Wie viele Tabs hast du gerade offen? Unser Smartphone ist, egal bei welcher Beschäftigung, ständig parallel mit am Start. Das sind immens viele Eindrücke, die unser Gehirn verarbeiten muss. Die Folge: wir fühlen uns zerstreut und ausgelaugt. Nutze jetzt diese neue Smartphone-App, die dir hilft, weniger Zeit am Smartphone zu verbringen. Die App lehrt, die Momente zu identifizieren, in denen wir uns ans Smartphone hängen. In fünfminütigen Übungen werden wir dauerhaft in Impulskontrolle, Selbstreflektion, Achtsamkeit und Resilienz gestärkt.“
Eine wunderbare Idee. Es erinnert an die Idee des Teams um Greta Thunberg, die Klimaaktivistin nicht mit einem bösen Flugzeug, sondern an Bord eines Segelbootes über den Nordatlantik nach New York zu bringen für ihre berühmte zornige Rede vor der Vollversammlung der Vereinten Nationen. Die Rede wurde auf YouTube gestellt und von 5,4 Millionen Menschen auf der ganzen Welt live verfolgt. Das verursachte 422 Tonnen Kohlendioxyd – so viel, wie bei 97 Transatlantikflügen entstehen. Dies offenbart, wie entscheidende Zusammenhänge im Themenfeld Smartphone und Internet generell im Dunkeln bleiben oder ganz bewusst unterbelichtet werden. Alleine die Videos, die im Netz abgespielt werden, erzeugen weltweit so viele Treibhausgase wie das Land Spanien. Und populäre Strea-
minganbieter erzeugen so viele Emissionen wie Chile.
Jede Whatsapp-Nachricht, jedes zuckende Werbebanner, jedes Selfie, jede Google-Suche und die riesige Tonnage an Mails und Spam im Netz beschäftigen Clouds, also eigentlich Rechenzentren, auf der ganzen Welt. Die sind jeweils so groß wie Shopping-Center auf der grünen Wiese und saugen unendliche Megawatt Strom. Und weil die Prozessoren jedes Watt in Hitze wandeln, braucht es noch weiteren Strom, um die chronisch Überhitzten wieder abzukühlen. Was Wunder, dass das Internet mit all seinen Angeboten zurzeit vier Prozent aller Treibhausgase global verursacht. Der internationale Luftverkehr bringt es übrigens auf 3,5 Prozent.
Von der Cloud zurück zum einzelnen Menschen. Nicht um zu klagen, sondern um bewusst zu machen. Aufschlussreich sind inzwischen viele wissenschaftliche Untersuchungen. Auch ganz schlichte. Etwa die, bei der drei verschiedene Gruppen von Menschen eine Aufgabe am Computerbildschirm lösen sollen, die konsequente kognitive Aufmerksamkeit verlangt. Eine Gruppe darf ihr Smartphone umgedreht auf dem Tisch ablegen, eine weitere muss es in die Hosentasche stecken, eine dritte muss es außerhalb des Testraumes lagern. Letztere erreicht klar die besten Testergebnisse. Die erste hat umgekehrt das größte Handicap: Das Gerät, das da umgedreht liegt auf dem Tisch, es zieht immense Quanten an Konzentrationsfähigkeit ab, da die Menschen stets erwarten, dass Wichtiges und Interessantes geschieht und vermeldet wird. Und sie es – versäumen.
Vielsagend, nicht zuletzt, auch das Echo des Smartphonismus in der bildenden Kunst. Beispiel: Die Malerin Sophie Gogl, 1992 geboren in Österreich, zeigt sich seit geraumer Zeit in ihrer Selbstporträtmalerei angemessen digital sozialisiert. Ob auf dem Bett, auf dem Sofa oder auf der Toilette sitzend – Gogl zeigt Oberkörper und Kopf, ihr Konterfei, stets illuminiert vom Schein des Smartphones, die Augen sind fest auf seine leuchtende Oberfläche gerichtet. So erzählt sie stimmig vom pausenlosen Aufgesogensein durch unentwegte Mitteilungs- und Bilderströme. Und zeigt pars pro toto: Das Werkzeug Smartphone ist auch in der Thematisierung durch die Bildende Kunst in der Welt des 21. Jahrhunderts angekommen.
Mit dem vorliegenden Band bringt die Literaturgruppe POSEIDON das Smartphone als Hauptthema ein in die Literatur. Von den 18 Autoren im Altersspektrum von 18 bis 90 Jahre sind 17 tatsächlich aus Fleisch, Nerven und Blut und mit organischem Zentralen Nervensystem versehen. Die Ausnahmen bilden die Storys Julia und Marc und „Schreibe ein Gedicht“. Sie wurden vom Chatbot ChatGPT (Generated Pre-trained Transformer) verfasst oder mitverfasst. Ja, diese Kostprobe waren wir uns schuldig in einem Band über die digitale Welt samt Ausblicken in die Sphären der Künstlichen Intelligenz und den vielen Befürchtungen und Erwartungen, wie das System KI auch die Buchbranche und das Schriftstellerdasein verändert, aufrollt, umwälzt. Unsere Autoren Marina D’Oro und Marc Mandel haben in einem Online-Dialog dem Chatbot mit wenigen Namen, Begriffen und Sätzen, quasi einem Minimal-Skript, den Auftrag gegeben, anhand dessen doch ein Stück Literatur zu verfassen. Und zackzack waren sie da, die kleinen Werkstücke. Urteilen Sie selbst.
Und nun, zuletzt, zu uns, den Autorinnen und Autoren dieser Anthologie. Auf eines legen wir nämlich alle und ohne Ausnahme großen Wert: auf Sie als die analoge, echt-menschliche Leserschaft mit Interesse, Emotion und Affekt. Und mit dem Spaß und dem Humor, das Phänomen literarisch zu verkosten.
Fritz Deppert
Es
Da lag Es oder Sie, noch wusste er nicht, wie er Es oder Sie ansprechen sollte, schwarz glänzend auf dem Tisch. Im Gegensatz zu einem Taschenspiegel, der mehr oder weniger fröhlich, je nach Tagesform und Grund, warum er aus der Tasche gezogen worden war, darauf bedacht war, seine Umgebung bis ins Detail abzubilden, eine finstere, tückisch glänzende Schwärze. Ein Geschenk seiner Kinder, das er nicht abweisen konnte, weil es gut gemeint war. „In Deinem Alter musst Du erreichbar sein!“, sagten sie in einem Ton aus Sorge und Bestimmtheit.
Da er von Unklarheiten nichts hielt, entschied er sich für das neutrale Es und beugte sich über das schwarze Rechteck.
Er sah sein eigenes Gesicht, leicht verschwommen aber identifizierbar und düster gefärbt, als blicke er schon aus dem Jenseits zurück. Als er es anlächelte, reagierte es nicht. Dann hörte er ein leises Hallo. Zunächst hielt er das für eine Einbildung. Die Fantasie, über die er in reichem Maß verfügte, spielte ihm wohl wieder einen Streich. Doch dann flüsterte es: „Du musst die Taste an meiner rechten Seite drücken, dann gehöre ich Dir.“
Da er nicht sicher war, ob er wollte, dass das schwarze Etwas ihm gehörte, zögerte er. Dann suchte er die Taste. Neugierig auf neue Erfahrungen war er zeit seines Lebens gewesen. Daran hatte sich auch im Alter nichts geändert. Nachdem er sie, schmal und unscheinbar und gleichsam verborgen, entdeckt hatte, nahm er das Ding in die Hand und drückte die Taste.
Er war kein Technikfan. Trotzdem faszinierte ihn, was nun geschah. Farben huschten über die Fläche, bildeten Muster, aus denen Gegenstände wuchsen, Würfel, Kugeln und Säulen. Was er von den ersten Erläuterungen durch einen der Enkel behalten hatte, weil der es ihm eindringlich langsam vorgemacht hatte, war, dass er ein Muster zeichnen musste, einen Längs- und einen Querstrich, die einen rechten Winkel bildeten.
„Willkommen“, sagte die Stimme zu ihm, die jetzt aus dem Bild einer Eule sprach. Auch dieses Bild hatte der Enkel in das Gerät hinein gezaubert, weil er wusste, dass Großvater Eulen sammelte. Ein schönes Bild, von Eulen gab es nur schöne Bilder. Die Stimme wirkte zwar einschmeichlerisch, aber kalt.
So stand er nun da, das Ding, das Es, in der Hand und wusste nicht, was er damit anfangen sollte.
Die Stimme forderte ihn auf, das Bild zu drücken und zu streicheln, dann stünde Es ihm zur Verfügung. Das wollte er eigentlich nicht. Aber die Neugier bewog ihn zu drücken und zu streicheln. Eine Kaskade von Tönen und Bildern prasselte auf ihn ein, so ähnlich wie aus dem Fernsehgerät, wenn er aus Langeweile über die dargebotenen Programme zappte und an Sender geriet, die ihm alles Mögliche verkaufen wollten, ob er es brauchte oder nicht. Mit Hilfe der Fernbedienungen drückte er die Programme weg. Aber was sollte er in diesem Fall machen?
Er drückte, er streichelte, die Aufforderungen und Angebote wurden immer zahlreicher und aufdringlicher. In den Werbepausen kam Musik und beschallte seine Ohren. Als schließlich Helene Fischers Stimme ertönte, reichte es ihm. Er packte das Gerät in eine Tüte, zog seine Jacke an und begab sich auf den gewohnten Abendspaziergang, wenn auch früher als sonst. Unterwegs, als er sich sicher war, dass niemand ihn sah, warf er die Tüte in eine Hecke am Wegrand und kehrte erleichtert nach Hause zurück. Keine fremde Stimme empfing ihn, kein Gerät wollte gedrückt und gestreichelt werden. Zufrieden setzte er sich in den Sessel und las in dem Buch, das dort immer in Griffweite lag, in dem Fall ein Aufsatz darüber, wie Erdbeben entstehen.
Am nächsten Morgen klingelte es, er öffnete, ein Junge stand vor ihm, etwa zehn Jahre alt, hielt das schwarze Ding in der Hand und sagte: „Das habe ich gefunden, es gehört Ihnen“ und strahlte ihn an. Er überlegte, ob er die Tür zuschlagen sollte, aber als er das glückliche Gesicht des Finders ansah, entschied er sich dazu, das Ding zu nehmen und dem Jungen einen Finderlohn in die Hand zu drücken.
Da war Es nun wieder. Er legte es in eine Schublade, um in Ruhe zu überlegen, wie es weitergehen sollte. Doch vom Tag darauf an schellte es mehrmals täglich und ein Paket nach dem andern stapelte sich zuerst in seinem Flur, dann vor der Tür. Den Absendern nach, die er anfangs noch entzifferte, waren es Kosmetika, Nahrungsergänzungsmittel, Pillen für die Nachtruhe, Bücher mit allerlei Ratschlägen für allerlei Fälle, vom Schlaganfall bis zur Magenverstimmung, von Partnersuche bis zur Altersgymnastik, vom Verhütungsmittel bis zum Stimulator. Dann gab er es auf und rief seine Kinder zu Hilfe. Es war das erste Mal, dass er dies tat, denn sein Ehrgeiz war es, allein zurecht zu kommen. Aber er wusste keinen Ausweg. Sie kamen, schickten die Pakete zurück und blockierten in dem Smartphone alle Werbeangebote.
Nun lag Es wieder auf dem Tisch, der schwarze Glanz schien matter geworden zu sein, sein Gesicht spiegelte sich verschwommen und verzerrt und die Aufforderung „Drück mich, streichle mich“ klang leiser und weniger verführerisch. Sie wirkte ein wenig kläglich. Trotzdem verfolgte sie ihn, wohin er in seiner Wohnung auch ging.
Zuerst steckte er Es hinter die Bücher. Goethes Faust und
E. T. A. Hoffmanns Zauberkünstler sollten es zum Verstummen bringen. Da er jedoch immer genauer hinhörte, sogar die Ohren spitzte, hörte er immer noch die Aufforderung „Drück mich, streichle mich.“ Nur das Ausrufezeichen dahinter hörte er nicht mehr.
Als er alte Zeitungen auf den Dachboden brachte, packte er das Ding zwischen die Blätter und ließ es mit ihnen zusammen dort zurück. In der Wohnung war es still, kein Flüstern mehr, selbst wenn er angestrengt horchte; er genoss es.
Nach zwei Tagen klingelten die Mansardenbewohner und beschwerten sich. Von seinem Dachboden kämen ununterbrochen Töne, als wäre dort eine Katze eingesperrt. Das störe sie sogar im Schlaf. Also tappte er, sich selbst dabei anknurrend, auf den Dachboden, holte Es und brachte es in den Keller. Das leise Weinen und die Aufforderung „Drück mich“ ignorierte er. Er legte es hinter die Weinflaschen und kehrte in seine Wohnung zurück.
Es gelang ihm jedoch nicht, die Stimme und das klägliche Weinen zu verdrängen. Jedes Glas Wein erinnerte ihn. Er musste eine endgültige Lösung finden. Während er noch grübelte, strahlte Arte, sein Lieblingssender, eine Dokumentation über die Nibelungenfestspiele am Wormser Dom aus. Nachdem er die Sendung gesehen und das Fernsehgerät ausgeschaltet hatte, stand sein Entschluss fest. Am nächsten Tag fuhr er nach Worms zu der Stelle, an der angeblich Hagen den Nibelungenschatz in den Rhein geworfen hat, nahm Es aus der Tasche, drückte es und streichelte es, ließ die Bilder und Töne über sich ergehen als wäre er auf einem Jahrmarkt, und warf das Ding, seine Beschwerde „Das kannst du mir nicht antun“ ignorierend, in hohem Bogen in den Rhein. Nachdem er den Dom besucht und die romanische Architektur und ihre stille, beruhigende Frömmigkeit besichtigt hatte, fuhr er nach Hause, nahm das Nibelungenlied aus dem Bücherregal und stellte es in den öffentlichen Bücherschrank in seinem Viertel.
Seitdem hat er von dem Es nichts mehr gehört. Die Kinder, die seine unwilligen Reaktionen auf Nachfragen scheuten, zuckten mit den Achseln und wagten ihn nicht mehr zu fragen. Manchmal meinte er, kurz vor dem Schlafengehn, wenn er im Sessel sitzend seinen abendlichen Rotwein trank und die Straße draußen und die Geräte drinnen in der Dunkelheit verstummten, noch ganz leise die Stimme flüstern zu hören: „Drück mich, streichle mich“.
Ein roter Stuhl
Nachdem er sich sicher war, dass er dort bleiben würde, hatte er nach einem Haus am Stadtrand gesucht. Er liebte es, zwischen seinen Arbeitsstunden am Schreibtisch lange Spaziergänge zu machen, um den Kopf frei zu bekommen und dann intensiv weiterarbeiten zu können. Nach Wochen der Suche fand er das, was seinen Vorstellungen entsprach, ein kleines Haus aus den neunzehnhundertfünfziger Jahren in einem Vorort, der sich auf dieser Seite nicht ausgebreitet hatte, weil das Land jenseits der Siedlung bewaldet war und unter Naturschutz stand wegen Wanderdünen, die jedoch schon lange nicht mehr wanderten. Ein schnörkelloser Nachkriegsbau ohne störende Auffälligkeiten, ein weißgetünchtes Viereck folgte auf das andere weißgetünchte Viereck. Ein alter, allein lebender Mann hatte es bewohnt, seine Frau war vor Jahren verschwunden, erzählte ihm die Tochter. Sie kümmerte sich um ihn und zwang ihn schließlich, als er gehunfähig und zeitweise dement geworden war, in ein Heim umzuziehen, obwohl er sich mit Händen und Füßen dagegen wehrte. Da sie Familie hatte und berufstätig war, musste sie so handeln, obwohl es ihr, wie sie versicherte, schwer
fiel.
Sie hatte ihn durch die bereits leergeräumten Räume geführt und er hatte ihr ohne Zögern zugesagt, es zu kaufen. Der Vertrag war inzwischen unterschrieben und vom Notar beglaubigt. Nach dem Treffen in dessen Büro wünschte sie ihm mehr Glück mit dem Haus, als sie es gehabt hätte. Als er beim Verabschieden ihr zartblaues Kleid bewunderte, errötete sie und antwortete: „Sagen Sie doch einfach Elvira zu mir.“
Jetzt gehörte das Haus also ihm. Die Schlüssel in seiner Hand belegten es. Er öffnete die auf den ersten Blick aus Metallgittern und undurchsichtigem Glas bestehende Tür, trat ein. Den größten Raum mit Blick zum Wald hin hatte er als sein Arbeitszimmer vorgesehen. In seiner Mitte stehend, wartete er, bis der Hall seiner Schritte sich verloren hatte und begann, ihn in Gedanken einzurichten. An der Innenwand fehlte eine Steckdose. Die würde er legen lassen müssen, weil er für die vielen Geräte, die er besaß – Computer, TV-Gerät, Musikanlage, Internetradio – eine Stromquelle brauchte. Als er sich bei der Schlüsselübergabe gewundert hatte, wieso diese Wand ohne Steckdose war, hatte Elvira einen flüchtigen Blick darauf gerichtet und kopfschüttelnd gesagt, dass sich ihrer Erinnerung nach dort sogar eine Doppelsteckdose befunden hätte.
Er sah sich um in dem Zimmer, in dem er die meiste Zeit verbringen würde. Etwas störte ihn, einmal wegen seiner Farbe, braun und rot, und zum anderen, weil es sich als einziger Gegenstand in dem ansonsten leeren Raum befand: In der Mitte des Zimmers stand ein Stuhl. Roter, verblichener Stoff überzog Sitz und Armlehnen, die Holzteile, die aus dem Rot hervorragten, waren fleckig braun. Der ursprüngliche Lack war durch die Hände des ursprünglichen Besitzers abgeschabt. Vielleicht hatte der alte Mann dort darauf gewartet, dass der Umzugswagen zur Abfahrt bereit war, hatte sich erhoben und war mühsam, kaum die Füße von der Erde hebend, am Arm der Tochter zu ihrem Wagen gegangen und beide hatten den Stuhl vergessen. Also stand er da. Er wirkte verbraucht, abgenutzt, gealtert, obendrein täuschte er Qualität vor, die, nachdem der allgemeine Wohlstand ausgebrochen war, in den kleineren Besitztümern imitiert wurde. Man hatte überlebt und war wieder wer. Immerhin war er nicht aus den Fugen gegangen. Das Haus gehörte ihm, demnach auch dieses Zimmer und auch dieser Stuhl.
Dass der Stuhl mitten im Zimmer stand, irritierte ihn. Seiner Erfahrung nach hätte er entweder am Fenster stehen sollen, damit der Besitzer den Auszug oder die nicht stattfindende Dünenwanderung beobachten konnte, oder in Türnähe, um dort darauf zu warten, abgeholt zu werden. Als er ihn zu einer dieser Stellen, nämlich dem Fenster, rücken wollte, ließ er sich nicht bewegen, so, als wäre er am Boden befestigt. Er kniete sich und suchte nach Befestigungen, konnte jedoch nichts finden, was darauf hindeutete. Als er sich erhob, knackten die Kniegelenke und signalisierten ihm, dass er nicht mehr der Jüngste war und solche Bewegungen unterlassen sollte.
Er setzte sich auf den Stuhl, legte die Arme auf die Lehne, sah auf die leeren Wände und versuchte sich vorzustellen, wie er sie mit Möbelstücken und Bildern ausstatten könnte. Es gelang ihm nicht, seine Gedanken darauf zu konzentrieren. Sie schienen sich zu verselbstständigen und ihn auf eine Reise mitzunehmen, die aus verschwommenen Bildern bestand, denen er keinen Sinn zuordnen konnte. Wahrscheinlich spielte ihm die Fantasie einen Streich und er sah die Reihe der Vorbewohner durch das Haus pilgern, um sich zu verabschieden. Dann hörte er ein leises Summen, das aus der Wand zu kommen schien. Nachdem er sich erhoben hatte, war es nicht mehr zu hören. In den kommenden Tagen war er damit beschäftigt, seinen beweglichen Besitz in das Haus zu bringen, die Papiere, die kleinen Gegenstände, die Bücher, gerahmte Fotografien und vor allem die Geräte, die er nicht in fremde Hände geben wollte. Die Möbelstücke brachte eine Spedition.
Er hatte einen vergilbten Grundriss erhalten, wahrscheinlich aus dem Bauantrag, und danach die Einrichtung vorgeplant, indem er Geräte und Möbelstücke mit dem Maßband auf ihre Breite überprüfte und die Zahlen mit Bleistift in den Plan an die Stelle schrieb, an der er den Gegenstand platzieren wollte.
Irgendwem, vielleicht auch ihm, musste ein Messfehler unterlaufen sein, denn das zukünftige Arbeitszimmer erwies sich innerhalb der Seitenwände um circa 20 Zentimeter schmaler als im Plan angegeben. Doch die Gegenstände ließen sich um diese fehlenden Zentimeter zusammenrücken.
Endlich befand sich alles an seinem Platz. Er setzte sich wieder in den Stuhl, da er sich mitten im Zimmer stehend anbot, um mit einem Blick rundum zu überprüfen, ob er mit dem Ergebnis zufrieden war. Kaum saß er dort, hörte er wieder das Summen. Es kam aus der steckdosenlosen Wand. Als er sich erhob, um darauf zuzugehen, konnte er das Geräusch wiederum nicht mehr hören.
In den folgenden Tage beschäftigte er sich mit Einräumen und Umräumen, Aufstellen der Bücher, Ausbreiten der aktuellen Papiere auf dem Schreibtisch. Er vergaß das Summen, vergaß sogar den Stuhl, so als gehöre er dazu.
Da er noch Fragen zu den Kellerräumen hatte, unter anderem zu einer etwa zwei Meter langen Rolle mit Plastikfolie, rief er Elvira an, um ihr die Fragen zu stellen. Sie konnte ihm zufriedenstellende Auskünfte geben; zu der Rolle meinte sie, sie stamme wohl noch aus der Bauzeit und er solle sie einfach wegwerfen.
Offensichtlich war sie erleichtert, dass der Verkauf des Hauses reibungslos vonstatten gegangen war und wurde gesprächig. So erfuhr er, dass ihre Mutter vor Jahren den Vater wegen eines anderen Mannes verlassen hatte und zwar sehr plötzlich. Sie brach alle Kontakte ab. Versuche, sie aufzufinden, waren erfolglos. Zu diesem Zeitpunkt lebte die Tochter bereits nicht mehr im Haus; sie hatte eine eigene Familie, darunter ein Baby, das alle ihre Kraft forderte und aufzehrte. Zwar konnte sie nach einiger Zeit den Mann ausfindig machen, in den sich ihre Mutter verliebt hatte, aber er erklärte zu ihrer Überraschung, dass ihre Mutter zu dem Treffpunkt damals nicht erschienen war und sich auch danach nicht mehr gemeldet hätte. Ihr Handy wäre auf Anrufbeantworter geschaltet gewesen und seine Versuche, sie bei ihrem Ehemann entdecken zu können, wären erfolglos geblieben, obwohl er tagelang das Haus beobachtet habe. Schließlich hätte er aufgegeben.
Vater und Haus wären ihr zu der Zeit fremd geworden, ohne dass sie es erklären könnte. Vielleicht, weil sie das Gefühl hatte, dass der Vater nicht mit ihr über die Mutter sprechen wollte und auch nicht besonders erfreut schien, wenn sie ihn besuchte. Es sei auch nie eine Verbindung zwischen ihm und seiner Enkelin, ihrer älteren Tochter, entstanden, er habe abweisend gewirkt und es damit begründet, dass sie seiner verschwundenen Frau allzu sehr ähnlich sei. Zum Beispiel habe er sie beide nicht ins Haus gelassen, wenn sie ein blaues Kleidungsstück trugen; sogar auf ein blaues Haarband habe er reagiert und die Enkelin erst eingelassen, nachdem sie es ablegt hatte. Folglich besuchten sie ihn selten. Erst seine altersbedingte Hilflosigkeit habe sie wieder öfter im Elternhaus zusammengebracht.
Die Frage nach dem roten Stuhl beantwortete sie mit dem Vorschlag, ihn in den Sperrmüll zu geben. Er erinnere zu sehr an die letzten Jahres des Vaters, den sie bei ihren wenigen Besuchen stets in diesem Stuhl antraf, und sie habe jedes Mal den Eindruck gehabt, als enthalte dieser Stuhl ein Geheimnis, das er vor ihr verberge.
Nach dem Gespräch untersuchte er den Stuhl, ohne etwas Überraschendes finden zu können. Er tastete die zum Teil verschlissenen Polsterungen ab, drehte und wendete ihn, stellte ihn auf den Kopf, ohne sich zu wundern, dass er ihn plötzlich bewegen konnte. Als er sich danach setzte, hörte er wieder das Summen.
Während er sich auf das Geräusch konzentrierte, spürte er unter der rechten Hand eine raue Stelle auf dem Holzteil der Lehne und entdeckte eine in das Holz geritzte Zahl. Der Länge nach war es kein Code oder eine Bankgeheimzahl oder dergleichen. Ein Datum konnte es auch nicht sein, die Punkte fehlten. Die ersten Ziffern 04917 kamen ihm bekannt vor. Es war eindeutig eine Handynummer.
Er zögerte anzurufen, setzte sich stattdessen an seinen Schreibtisch, versuchte einen angefangenen Text weiterzuschreiben. Seine Gedanken kehrten immer wieder zu der eingeritzten Nummer zurück. Auch die Blicke aus dem Fenster auf die über die Düne herüber rotbraun leuchtenden Stämme der Kiefernbäume vermochten es nicht, ihn abzulenken. Also erhob er sich, ging zu dem roten Stuhl zurück, setzte sich, nahm sein Smartphone und wählte die Nummer. Ein Klingeln erschreckte ihn, es war deutlich zu hören und es kam zweifelsfrei aus der Wand. Als es in seinem Phone piepste und eine Stimme ihn aufforderte, eine Nachricht zu sprechen, schaltete er hastig ab. Er sprang auf, lief hin und her, setzte sich wieder und wählte die Nummer erneut. Wieder kam das Klingeln aus der Wand. Jetzt stellte er sich dorthin und drückte die Wiederholungstaste. Er konnte es nicht überhören. Als er ein Ohr an die Wand presste, hatte er das Gefühl, ein Telefongerät befände sich direkt neben seinem Kopf und sende aufdringlich laute Klingeltöne. Auch die Ansage, die ihn aufforderte, seine Nachricht zu sprechen, dröhnte in sein Gehör, als stünde die Sprecherin neben ihm.
Nun musste er sich bewegen, hin und her, im Zimmer, dann vor dem Haus, um das Haus herum, und die nächsten Schritte bedenken. Entschlossen, der Sache auf den Grund zu gehen, kehrte er zurück, überprüfte durch wiederholten Anruf seinen Eindruck. Es war keine Einbildung. Der Ton war real und genau zu orten. Daraufhin stand sein Entschluss fest. Zuerst klopfte er die Wand ab und stellte fest, dass sich dahinter offensichtlich ein Hohlraum befand. Dann holte er einen Hammer und schlug auf sie ein. Sie zeigte Risse, bröckelte, ein Loch tat sich auf. Hinter dem Loch nur Dunkelheit und auch die herbeigeholte Taschenlampe fand nur Hohlraum und Teile einer Plastikfolie. Noch am gleichen Nachmittag bestellte er einen Hausmeisterdienst. Die Nacht verbrachte er unruhig, wenn er einschlief, träumte er, er wäre in einer Kiste eingesperrt, könnte nicht heraus und auf seine stummen Angstschreie reagierte niemand.
Am Vormittag kamen zwei Männer in blauer Arbeitskleidung, besahen die Wand, klopften daran, wie er es getan hatte, und erklärten, hinter der gesamten Wand befände sich tatsächlich ein Hohlraum; mit seinem Einverständnis würden sie diese offensichtlich nur aus verputzten Platten bestehende Verkleidung entfernen. Er nickte, setzte sich in den roten Stuhl und sah zu. Die beiden räumten die von ihm aufgestellten Möbelstücke weg, legten Folie aus, befeuchteten die Wand wegen der Staub-
entwicklung, und schlugen zu. Stück für Stück brach sie heraus und enthüllte eine weitere Wand. Als sie zu der Stelle kamen, an der er das Klingeln geortet hatte, hörten sie auf und erklärten, im Zwischenraum befände sich ein größerer Gegenstand. Dann lösten sie mit vorsichtigen Hammerschlägen nur noch kleine Stücke. Zum Vorschein kam eine mehrfach mit einer Folie umwickelte Leiche, dem noch erkennbaren, wenn auch teilweise vermoderten blauen Kleid nach eine Frauenleiche. Sie schien ihn anzustarren.
Nachdem sie sich von ihrem Schreck erholt hatten, sowohl er als auch die beiden Handwerker, riefen sie die Polizei und gaben ihr eine genaue Beschreibung des Vorgangs. Sie kamen zu mehreren, Uniformierte und welche in weißen Kitteln, und untersuchten den Fund. Dabei sah er, dass eine Schnur aus der Folie heraus und zu der Doppelsteckdose an der inneren Wand führte. Ein Ladekabel. Beim Öffnen der Folie kam ein Handy älteren Baujahres zum Vorschein. Es war an das Kabel angeschlossen. Er berichtete den Beamten von seinen Anrufen, die baten ihn daraufhin, erneut die Nummer zu wählen und, obwohl sie es erwartet hatten, erschraken alle, als das altertümliche Gerät laute Klingelzeichen von sich gab.
Inzwischen traf auch die von ihm benachrichtigte Tochter Elvira ein und bestätigte, dass ihre Mutter das blaue Kleid getragen hatte, als sie verschwand. Auch die Handtasche, die in die Folie mit eingewickelt war, erkannte sie. Da sich dort der Ausweis der Mutter fand, stand fest, wer die Tote war.
Die scheinbare Gefasstheit Elviras war zu Ende, sie rannte schreiend aus dem Haus.
Einer der Beamten drückte ihm ein Protokoll der polizeilichen Untersuchung in die Hand und bat ihn, es zu unterschreiben. Inzwischen transportierten die Männer in den weißen Kitteln die Leiche mitsamt der Folie ab, um in der Pathologie die Todesursache feststellen zu können. Nur er und die beiden Handwerker blieben vor der heruntergeschlagenen Wand zurück.
Sie baten ihn um eine Pause. Auch sie waren betroffen von dem, was sie vorgefunden hatten. Doch sie versprachen, am nächsten Tag wiederzukommen, den Schutt wegzuräumen und die zum Vorschein gekommene Wand herzurichten. Er gab ihnen beim Verabschieden den Auftrag, sie zart blau zu streichen, dann setzte er sich in dem plötzlich totenstillen Raum in den roten Stuhl und versuchte, das Erlebte zu sortieren und zu verkraften. Danach legte er ein unbeschriebenes Blatt Papier auf die Schreib-
unterlage seines Arbeitstisches und beschriftete es schwungvoll mit einem einzigen Wort: Elvira. Anschließend stellte er den Stuhl auf die Straße und schloss das Haus ab, als könnte er auf seinen vier Holzbeinen zu ihm zurückkehren wollen.
Iris Welker-Sturm
Smart brain for free
Zur Zeit der Pandemie habe ich das Spielen auf dem Smartphone entdeckt, traditionelle Brett- und Kartenspiele, die ich sonst mit Freund!nnen spielte, kann man hier gegen den Computer spielen. Es gibt sie kostenlos, nimmt man die allgegenwärtige Werbung, die Datenveräußerung und die entstehenden Stromkosten in Kauf.
Von Aufforderungen wie „Zeit, dein Gehirn zu trainieren“ oder auf die Empfehlung „von Ärzten“ lasse ich mich zur „daily challenge“ verlocken. So habe ich die Herausforderung für den 14. Februar angenommen – „füllen Sie das Herz für IQ 140+“ – das Display beglückwünscht mich mit einem Sternchen, obwohl ich beim ersten Mal gescheitert bin. Auf die Aufforderung „spiel das und bleib scharf“ hingegen habe ich mich nicht eingelassen; ich war mir nicht sicher, wie scharf ich bereits bin und wie weit ich in dieser Hinsicht gehen will.
Die so genannten Reisen, bei denen man mit zunehmendem Schwierigkeitsgrad von level zu level turnt, bergen Suchtgefahr. Über diese Schiene und permanente Belobigungen lässt man sich fast unbemerkt zu Bezahlvarianten locken.
Die schrägen Übersetzungen und Hinweise belustigen mich anfangs. Da wird ein „gewinnendes Spiel“ angepriesen, man verspricht mir „hektarweise Spaß“, wenn ich „meinen Drachen entwickle“. Beim Skattreff kann ich „Hinterhand“ spielen. Ich kann prüfen, ob ich etwa ein „Schläfenlappengehirntyp“ bin, und „Easy brain“ schätzt mein Gehirnalter auf 35 – ich kann mich nicht entschließen, ob ich versuchen soll, mich weiter zurück zu entwickeln.
Neben allgemeiner Werbung werden eine Unzahl weiterer Spiele angepriesen – zunächst meist „for free“. Nicht immer kann ich das Spielerische nachvollziehen, wenn z.B. eine frierende Frau mit Kind im Schneetreiben vor sich hin zittert, weil sie von Ehemann oder Richter aus dem Haus gewiesen wurde. Ich könnte sie oder auch die spärlich bekleidete junge Frau, die über einem Feuer hängt, retten, wenn ich schnell genug die richtigen Klötzchen verschiebe, gibt man mir zu verstehen.
Bei fast jeder Spielewerbung bin ich gezwungen, passiv mitanzusehen, dass eine Katastrophe nicht verhindert wird oder dass das Opfer gar zu Tode kommen wird, wenn ich mein begonnenes Spiel weiterspielen will. Bei „royal match“ gibt es sogar eine Königsfigur, einsam und von Unbill verfolgt, die völlig hilflos auf Rettung von mir wartet. Er winkt, mit der flachen Hand versucht er die ihn verfolgenden Speerspitzen abzuhalten und gleichzeitig wegzulaufen. Der nächstfolgende Werbespruch „the sneaker makes the man“ lässt mich vermuten, dass er nur nicht die richtigen Schuhe gewählt hat. Wie er wohl auf den Slogan „bleiben Sie den ganzen Winter über trocken“ reagieren würde, wenn ihm in einer anderen Folge Ertrinken droht? Aber vielleicht ist ja „das Besondere näher als wir denken“ oder aber wir denken nicht weit genug.
Über die Methode, die das Spiel „rise of Empire“ empfiehlt, konnte ich noch verwundert den Kopf schütteln und die imperialistische Haltung beklagen, mit der der Held einen Menschen aus dem Wasser zieht und ihn umgehend für sich schuften lässt, ihn offenbar auch zur Vermehrung heranzieht, oder woher kommen auf der einsamen Insel plötzlich die zahlreichen Frauen? Als Kohorte kommandiert sie der Held zur Feldarbeit. Im Trailer erlebt man sie nur gebückt.
Erschreckt haben mich dagegen in letzter Zeit vermehrt auftauchende Spiele anderer Art. Eines stellt zum Beispiel die provokante Frage „Was machst du so, um dein Heimatland zu verteidigen?“ und die Antwort ist: „Ich spiele als x-Land … ich baue Raketen … Da kommen Schiffe direkt auf uns zu … aber meine heftigen Raketenbomber werden mit denen schon fertig werden“ – und dann der Hinweis „call of war – world war II – install now“. Sie heißen „top war battle time“, „stormshot“ oder „total battle“ und ich werde aufgefordert „defeat all your enemies“ und „start now“. Der Fußballreporter neulich hatte wohl Ähnliches gesehen, als er mehrmals von „wegverteidigen“ sprach.
Ich sehne mich nach Spielanweisungen zurück wie „erst denken, dann ziehen“. Vielleicht kann ja die zwischen den Kriegsspielen platzierte andere Werbung zum Denken anregen: „Sterbegeld ab 6,31 € mtl – mit ANNA – Mutterliebe versichern“.
Schlüsselrolle
Seinen Wohnungsschlüssel hatte sie ihm zurückgeschickt, um ihre Worte zu bekräftigen. Sie kann und will nicht so einfach auf Freundschaft umschalten, wie er sich das vorstellt. Das längliche Briefkuvert blau, die Farbe schien ihr in mehrfacher Hinsicht passend. Papierschnipsel der letzten nicht eingelösten Versprechen polsterten aus, ein langer Klebestreifen verschloss das Kuvert. Einschreiben mit Rückschein, so würde sie wissen, dass und wann die Sendung angekommen ist. Ein klarer Schlussstrich. Es war alles gesagt. Nun würde sie Ruhe haben.
Sie hatte sich getäuscht. Gegen 23 Uhr am folgenden Abend erschien ein Foto auf dem Display ihres Smartphones. Es zeigt die Rückseite eines offenbar geöffneten blauen Briefumschlags, nachlässig wieder verschlossen mit zerknittertem Klebestreifen, schräg über die Kuvertklappe geklebt. Da hatte sich jemand dran zu schaffen gemacht. Die beigefügte Nachricht fragte, ob es richtig sei, dass der Brief „nur mit einem Tesastreifen gesichert“ gewesen sei. Leicht irritiert, rafft sie sich zu einer flapsigen Antwort auf: „Nein, zugeklebt war er auch.“ Die folgende Nachricht erwischt sie schon halb im Schlaf. Es habe Scherben gegeben, er habe sich an der Hand verletzt und blute. Zusatz mit Sternchen „Briefinhalt – nur die Schnipsel der Einladungskarten.“
Was war das Ziel dieser Nachricht? Sollte sie jetzt Mitleid bekunden? Hatte sie den Brief nicht gut verschlossen? Dann hätte ihn der Mann am Postschalter doch aber wohl nicht so angenommen. Konnte jemand den Schlüssel herausgenommen haben? Dann hätte er doch wohl die Spuren zumindest zu verwischen versucht oder gleich den ganzen Brief verschwinden lassen. Es war spät in der Nacht, aber an Schlaf nicht mehr zu denken. Vielleicht wollte er ihr nur ein schlechtes Gewissen machen. Verwirrt ließ sie die Nachricht ohne Antwort, schaltete auf stumm. Der Eindruck verdichtet sich, als sie am nächsten Morgen die dritte Nachricht liest: „Ich sehe grade, dass auf der Vorderseite Einschreiben mit Rückschein vermerkt ist – ich habe keinen Empfang quittiert – von daher meine Frage, warum Einschreiben mit Papierschnipseln, ein einfacher Brief hätte es doch auch getan.“ Sie soll offenbar zu einer Antwort gedrängt werden. Wenn der Schlüssel nicht im Brief war, wieso spricht er dann von „nur“ und „gesichert“? Sie hatte doch weder im Brief, noch in einer Nachricht etwas vom Schlüssel erwähnt. Jetzt ist sie doch froh, dass sie den Brief nicht selbst eingeworfen hat und wird erst einmal die Rückmeldung der Post abwarten.
Sie entschließt sich zu einer hinhaltenden Antwort: „Ich habe meine Gründe.“ Die Fragen, die ihr durch den Kopf gehen, lassen sich nicht so leicht abstellen. Hatte der Postbote etwa die Sendung gar nicht quittieren lassen und lediglich in den Postkasten gesteckt? Zwei Tage gingen ins Land. Dann endlich von der Post die Mitteilung, dass der Brief drei Tage davor dem Empfänger Rudi Kramers zugestellt und ordnungsgemäß vom Empfänger quittiert worden sei. Die Unterschrift, leicht krakelig, lesbar als Rudi Kramer. Von Beschädigung oder „geöffnet von der Post“ stand da nichts.
Wieder setzt das Gedankenkarussell ein: Er hatte doch geschrieben, er habe keinen Empfang quittiert? Sollte der Postbote ihn nicht angetroffen haben und zu faul gewesen sein, das Schreiben zur Poststation zu bringen? Reichlich unwahrscheinlich, dass der es auch noch selbst unterzeichnet haben könnte. Aber wenn jemand den Schlüssel entnommen hat, hätte er ja die Adresse und könnte sich jederzeit Zutritt zu seiner Wohnung verschaffen. Müsste bei offensichtlicher Beschädigung nicht der Empfänger protestieren und nicht unterschreiben? Hatte etwa gar ein Nachbar oder Fremder unterschrieben? Sie vergleicht die Unterschrift mit früheren Signaturen ihres Expartners. Die wenig ausgeschriebene Handschrift passt; das R zu Beginn ist ein wenig ungelenk und größer als sonst; und es fällt ihr auf, dass am Ende des Nachnamens ein s fehlt. Sowas merkt ein eiliger Postbote vielleicht nicht.
Füße stillhalten. Nicht provozieren lassen. Sie ist sich mittlerweile fast sicher, dass der Schlüssel sehr wohl im Brief war, auch, dass er ihn entgegengenommen hat und verärgert war. Jetzt will sie sehen, wie weit er das böse Spiel treibt. Sie schickt ihm ein Foto des Rückscheins und empfiehlt, falls er das nicht geschrieben habe, zur Polizei zu gehen. Und tatsächlich, er schreibt, das werde er tun, wenn er in den nächsten Tagen zurück sei von seiner Reise. Aber vorher fragt er noch einmal unter seinem Nickname an, vorher wolle er doch noch wissen, ob er nur Unterschriftenfälschung oder auch Diebstahl anzeigen solle. Dies neuerliche Insistieren bestärkt sie. Jetzt soll sie wohl Angst haben, dass jemand bei ihm einbrechen könnte. Wenn er wirklich befürchten würde, dass jemand seinen Schlüssel entwendet hat, würde er wohl kaum so ruhig bleiben und verreisen. Sie kennt seine leicht aufbrausende Art.
Er kennt sie und ihre üblichen Reaktionen wohl auch. Das Grübeln kann sie nur schwer abschalten. Da fällt ihr eine Story ein, die er ihr mehrmals kopfschüttelnd erzählt hat: Von offizieller Seite sei er darauf hingewiesen worden, dass seine Unterschrift nur mit vollem Namen gültig sei, so wie es im Pass steht: Das wäre Rudolf-Dietrich Kramers und auch der Bindestrich sei Bestandteil seines Namens. Sie erschrickt. Sie traut ihm zu, dass er lügt, sich solche Winkelzüge ausdenkt und sie auf diese Art unter Druck setzen will. So viel zum Freundschaftsangebot. Aber der Polizei würde er wohl kaum einen solchen Bären aufbinden wollen und können. Bevor er am Ende vielleicht noch einen Einbruchdiebstahl vortäuscht, blockiert sie ihn auf allen Kanälen.
Ewart Reder
Der Spiegel der Doria G.
In dem gemütlichen und abwechslungsreichen Land Analogonien lebte einst ein junger Prinz ein landesübliches Leben: gemütlich und abwechslungsreich. Ihm fehlte nichts von dem, was ihm Freude bereitete, auch nichts von dem anderen, das zum Leben gehört, das die Freude nicht zu groß werden lässt. Nur eine Frau hatte er noch nicht gefunden und darum reiste er viel, weil er dachte: Alle sehen heißt auch die Richtige sehen.
Tatsächlich war es eine Reise, seine dreihundertsiebzehnte, die den Prinzen in das Land Virtu Al Virtus und dort zu einer auf den ersten Blick bereits unentrinnbaren Frau führte. Sie hieß Prinzessin Doria G. (Name von der Redaktion geändert) und war eine jener Frauen, deren sichtbare Reize dadurch ins Unermessliche gesteigert werden, dass hinter ihnen noch eine Zugabe zu liegen verspricht, die, zum Sichtbaren addiert, unermesslich sein muss, weil sie mit jedem Reiz, den die Frau nach und nach offenbart, immer mitzuwachsen scheint, sodass das Versprechen nie abnimmt, ja, nicht einmal gleichbleibt.
Um ein Beispiel zu geben: Der Rücken der Prinzessin Doria erschien dem Prinzen als die Brücke ins Paradies. Er konnte sich keine anmutiger geschwungene Verbindung zwischen Kopf und Hintern einer Frau vorstellen als die unter Dorias Kleid sich abzeichnenden dreiunddreißig Wirbel. Aber eine Brücke führt eben wohin. Und ein gebeugter Rücken ist nicht alles, was ein Rücken sein kann, dachte der Prinz jedes Mal, wenn er Dorias Rücken betrachtete. Denn Doria saß immer vorgebeugt. Selbst wenn sie einmal stand, beugte ihr Rücken sich vor, sodass eigentlich nur Dorias Beine standen, nicht Doria insgesamt, vielmehr Dorias Oberkörper auch im Stehen vorgebeugt auf ihren Beinen saß wie auf jenem Sofa, auf dem Doria sonst den ganzen Tag saß. Und was machte Doria in dieser Haltung beziehungsweise was machte, dass Doria diese Haltung zu ihrer Lebensgrundhaltung gemacht hatte? Es war ihr Zauberspiegel, in den Prinzessin Doria den ganzen Tag sah, ein mittelkleiner rechteckiger Handspiegel, der Dorias Erwartung an das Leben vollständig enthielt. Schade, dachte der Prinz, dass ich diesen Rücken noch nie habe auseinanderfahren sehen wie eine Schlange, die sich erinnert daran, eine Schlange zu sein, die sich erinnert daran, eine Schlange zu sein, die sich erinnert ...
Aber zurück zu dem Spiegel. Noch ein anderes Problem machte der unserem analogonischen Prinzen. Er wusste nämlich nicht, wie seine erstmalig geweckte Liebe (die er zugleich für die letzte seines Leben hielt) einer Frau mitgeteilt werden konnte, die noch nicht mal sein Gesicht, geschweige denn die darin abgezeichneten Liebesgefühle anguckte, weil sie nur immer in den Spiegel sah. Alles hatte der Prinz versucht, Händeklatschen, Zwicken, Stricknadelstiche, einen Chinaböller direkt am Ohr der Prinzessin gezündet – vergebens. Ihm war klar: Er musste einen anderen Weg gehen zum Auge und dahinter zum Herzen von Prinzessin Doria, und er war bereit diesen Weg zu gehen. So sicher das Kamel durch das Nadelöhr gehen muss (weil das Gleichnis sonst nicht funktioniert), so sicher würde er ins Innere des Zauberspiegels vordringen, weil Prinzessin Dorias schöne Augen darauf und auf nichts sonst in der Welt ruhten.
Zuerst atmete er ganz tief aus, das verkleinerte seinen Körper schon mal um zehn Prozent. Dann hielt er die Luft einfach an und weigerte sich wieder einzuatmen. Das brachte noch mal fünf Bonusprozente, wegen Kühnheit. Er aß nicht mehr, trank nicht mehr, aber das Vollprogramm, ohne Nachtbulimie wie beim Ramadan. Satte dreißig Prozent für dreißig Tage gabs dafür. Am Ende kaufte er sich dreißig gebrauchte Computertastaturen, knipste die Minustasten raus und spülte eine nach der anderen mit „Doktor Alberichs Verkleinerungswasser“ durch die Gurgel in den eigentlich dafür schon zu kleinen Magen. Der Zoomeffekt brachte den Durchbruch. Mädchenfingergroß stand der Prinz neben dem Zauberspiegel, den Prinzessin Doria für eine Sekunde aus den Augen verloren hatte.
Aber was jetzt? Wie rein in das Ding?
Und genau das, was so unmöglich aussieht – das war in derselben Sekunde schon passiert! Verrückterweise. Der Zauberspiegel fand nämlich, dass der Prinz mit seiner Liebesdiät die Voraussetzungen eines Zauberspiegelinhalts nach dem Gesetz von Virtu Al Virtus bereits erfülle: Verrücktheit. Und machte keine langen Anstalten, machte einfach auf. Beam-Bang nennt man das. Der Prinz war drin. Bildschirm an und da lächelte er. Und Prinzessin Doria war sofort weg. Also hin. Sie wollte sofort heiraten.
Da passierte aber etwas, das Prinzessin Doria in ihrem Zauberspiegel noch nie passiert war. Plötzlich stand ein anderer Mann neben dem analogonischen Prinzen und behauptete, er sei der eigentliche Prinz aus Analogonien und der andere sei ein Fake. Der Mann aber, der dies behauptete, war der überhaupt unattraktivste Mann, den der Zauberspiegel der Prinzessin jemals für ein Date angeboten hatte. Er sah aus wie ein Baby, das, ohne zwischendurch ein Mann gewesen zu sein, schon ein Greis geworden war, also total weiche Haut, aber komplett in Falten, mehr Teebeutel als Mensch. Und als ob das wichtig gewesen wäre, hatte er noch nicht mal ein Gesicht.
Die Prinzessin schrie vor Verwirrung. Was war denn hier los? Sie hatte nicht damit gerechnet, dass es die Liebe wirklich gab, aber jetzt wusste sie es ja und zugleich wurde behauptet, der, den sie liebte, existiere gar nicht? Sie hätte beinahe den Zauberspiegel ausgemacht, so verwirrt war sie. Der angeblich gefakte Prinz machte jedoch etwas ganz Einfaches und das Problem löste sich dadurch auf. Der Prinz griff nach dem Mann, der das Ungeheuerliche behauptet hatte, packte ihn an zwei Falten, die man für Ohren hätte halten können, küsste ihn mitten in das, was von der Lage her das Gesicht hätte sein können, falls vorhanden. Und im selben Moment war der Teebeutelgestaltige weg und nur noch der echte und einzige Prinz blieb übrig. Genauso toll wie vorher sah er aus und von manchen Stellen seines Körpers strahlte für Sekundenbruchteile eine kleine „100“ auf, in hellblau, in gelb, in rosa, in hellgrün, verblasste dann wieder und ließ nur den appetitlichsten Körper zurück, den Prinzessin Doria in ihrem jungen Leben je gesehen hatte.
Gleich wollte sie wieder heiraten. Und jetzt wollte sie auch küssen. Das war aber nicht so einfach. Öffnete sie die heiß an der Zauberspiegeloberfläche haftenden Lippen, so vergrößerte der Prinz sich, statt gut zu schmecken. Schloss sie die Lippen schreckhaft, so verkleinerte der Geliebte sich, was ihr noch viel weniger gefiel. Mit der Zunge erreichte sie gleich gar nichts als unangenehm elektrische Empfindungen – nass wie die Tränen, die bald von außerhalb des Bilds über den Zauberspiegel gelaufen kamen. Es war ihr bislang größter Frust.
„Halte ein“, sagte der Prinz. „Du musst zu mir in den Zauberspiegel kommen, dann wird alles gut.“
„Wie jetzt?“, fragte Prinzessin Doria. „Das geht doch gar nicht.“
Doch, es gehe, sagte der Prinz. Und zwar „müßten wir wieder von dem Baum der Erkenntnis essen, um in den Stand der Unschuld zurückzufallen“, wenn er mal Kleist zitieren dürfe. „Im Märchen geht das, Herr von Kleist“, fügte der Prinz hinzu sehr zum Missfallen von Prinzessin Doria, die sich davon nicht angesprochen fühlte.
Komischerweise kam sie aber selbst drauf, was zu tun war. Sie hungerte ihrerseits dreißig Tage, schaute von hinten in ein Fernglas, las als erstes Buch ihres Lebens eine Kinderausgabe von „Der kleine Däumling“, ließ Google per Gesichtssuche ein Satellitenbild von sich selbst anzeigen, hatte lauter gute Einfälle und musste am Ende sogar fünf Schritte in der Browserchronik wieder zurückklicken, bis sie fünf Zentimeter groß neben ihrem Zauberspiegel stand. Und klingelte ... nee, das haben die Dinger ja nicht (noch nicht). Und Einlass begehrte. Das können die jungen Dinger, wie sie alles können, was unbedingten Gehorsam verlangt.
Und so kamen der Prinz aus Analogonien und die Prinzessin Doria G. aus Virtu Al Virtus doch noch zusammen.
Allerdings nur, um eine Wiederholung dessen zu erleben, was ihren Spaß vor einigen paarunddreißig Tagen schon mal gebremst hatte. Eine andere Frau trat nämlich zwischen sie und behauptete, die wahre Prinzessin Doria G. zu sein. Die andere sei ein Fake.
Die angeblich wahre Doria sah jetzt aber richtig schlimm aus. Nicht wie ein Teebeutel. Eher wie ein Mensch, der versucht haben musste, ein kubisches Stück Fleisch zu werden. Wie deutlich soll ich werden? Haben Sie mal einem Verkehrsunfall beigewohnt, bei dem der Fahrer nicht angeschnallt war und sein Körper beim Aufprall die Form des vorderen Teils der Fahrgastkabine ... Nein. Es lässt sich nicht beschreiben. Auch das Märchen muss seine Grenzen kennen.
Prinzessin Doria schrie ungefähr eine halbe Stunde. Dann machte sie etwas, das auch nicht immer hilft. Nämlich etwas, das jemand anders mal gemacht hatte und das in der Situation geholfen hatte. Sie küsste das kubische Stück Fleisch ungefähr dahin, wo die wichtigsten Icons auf der Zauberspiegeloberfläche sich befunden haben würden, wenn das Stück Fleisch ein Zauberspiegel gewesen wäre. Und was soll ich sagen – damit war sie weg. Aber nicht so wie damals, nicht hin und weg und verliebt. Nein. Sie war verschwunden.
Übrig blieben das kubische Stück Fleisch und der Prinz aus Analogonien.
Der wollte dann auch nicht mehr so richtig, und wenn es kein Märchen wäre, wären die beiden definitiv nicht zusammen alt geworden.
Weil es aber ein Märchen ist, sagte das kubische Stück Fleisch zu dem Prinzen aus Analogonien: „Komm Schatz, mach das Ding doch mal aus.“ Und nahm ihm das Ding weg und machte es aus. Und sah den Prinzen an.
Und da merkte der, dass sie eigentlich doch wunderschön war. Und wenn die beiden vielleicht auch nicht ewig zusammenbleiben, können sie es jetzt wenigstens mal probieren miteinander.
Tom Wolff
3snaps
countdown
drei
prozent
akku sehr schwach
an einem dünnen
ladebalken hängt
deine message
dein bild dein
neues profil
dicke sonnenbrille
die haare streng zum dutt
schulterblick weg
von der kamera
bist das du
jetzt
zwei
user
ein herz
ein perfektes matching
97 Prozent
auf der dating app
gute passung
das muss
was werden sagten
wir beschlossen
wir wischten
alle zweifel
vom schirm nur
dein profil
warst nicht du
war ein datensatz
nicht kompatibel
mit meinen analogen fehlern
meinem unverpixelten
gesicht meine
ladung extrem schwach
eins
muss ich dir
noch sagen
noch tippen
mein profil mein
perfektes wochenende
ausschlafen kuscheln joggen
pizza mit viel chili mit anchovis
mit allen freunden
mein spaß am kitesurfen
snowboarden
sundowner down under
meine lust
auf neue horizonte
das bin nicht
das war nie
das
gerät schaltet jetzt
in den ruhemodus
fail
Gibma Handy
Gib Kommando
Pizza ordern
Lieferando
Wodka alle
Alle wollen
Lassma liefern
Lass Gorilla rollen
Geiles Hoody
Nices Shirt
Von Zalando?
Nee von Muddi
Voll der Nerd
Lassma los
Bestell’n Benser
Car2Go
Raus aufs Land
Oder so
Checkma den Trecker
Honk am Steuer
Voll der Checker
Sagt er bestellt
Bestellt
sein Feld
flashback
wie wäre das
wieder kreise drehen
mit der wählscheibe
deine alte nummer
hauptstadtverbindung
elf ziffern
elfmal bis zum anschlag kurbeln
elfmal schnarrt die scheibe
zurück
spannt sich die spiralschnur zerrt
am hörer widerspenstig
von meiner hand
bis zum wandgerät im flur
im wohnheimdunkel
schritte hallen
türen knallen
neon flimmert
die alte wohnheimluft voll
bohnerwachs und fett und schweiß ich
in gedanken
schon fast
bei dir
wie wäre das
wärst du grad unterwegs
und gingst nicht ran
wärst du zuhause
dösend lesend
auf deinem jugendbett
würde der dicke grüne apparat
an eurer küchenwand
mit schrillem krächzen
dich aus dem halbschlaf reißen
und du die treppe runtereilen
knarrendes holz
freudiges poltern
du mit nackten füßen
über die kalten
küchenfliesen klatschen
den hörer hastig
von der gabel reißen
das knacksen in der leitung
wie ein kuss wie
wäre das
Stefan Benz
Der letzte Kumpel
Linux war das letzte Kind, das ein Smartphone kriegte. Beweisen ließ sich das bei zehn Milliarden Menschen auf der Erde natürlich nicht. Aber sein Onkel hatte das ja auch bloß gesagt, um den Vater zu ärgern, der in der Familie immer schon als rückständiger Nostalgiker gegolten hatte. Wer benannte seinen Jungen schon nach einem uralten Betriebssystem? Und dann richtete er seinem Sohn zur Geburt auch noch eine eigene Website ein. Eine Seite! Im Internet! Ja, wo lebten sie denn? Damit konnte sich Linux als Kind nirgends blicken lassen, ohne ausgelacht zu werden. Genauso wie mit seinem Smartphone, das schon veraltet war, als es auf den Markt kam: eine silbrig changierende Scheibe, die sich in Farbe und Form an den Untergrund anpasste. Wenn man mit diesem Telefon tatsächlich telefonierte, was im Grunde schon lange kein Mensch mehr machte, dann formte es die Ohrmuschel so nach, dass es vor dem Gehörgang hängen blieb. Biomorphing galt in der Kommunikationselektronik als wahnsinnig innovativ. Lange her. Immerhin hatte das Ding keine Tasten mehr, sowas wie Kabel konnte man auch nicht einstecken. Von einem Besuch im Museum für Kommunikationskultur wusste Linux, dass es das mal gegeben hatte. Dort lag ein iPhone 14 neben einer ausgestopften Brieftaube, Morsegeräten und Wählscheibentelefonen. Was für ein Schrott, sagte seine Kindergärtnerin damals, und alle lachten. Linux aber blieb still, denn er wollte sich keine Blöße geben. Keiner sollte von seinem iBaby 43 wissen. Es wuchs zwar mit seinem Nutzer, passte sich an die Größe von Handteller und Fingern an, lud sich mit Sonnenlicht auf, hatte aber nur G17-Standard. Nach diesem Modell war die Produktion eingestellt worden. Sowas brauchte die Welt nicht
mehr.
Und dennoch hing Linux an seinem Smartphone. Es hatte nicht nur als Babyphone fungiert, als er noch in der Wiege lag; es hatte ihm auch die Stimmen der Eltern und Großeltern vorgespielt, wenn er weinte; und es hatte ihn mit seinen 52000 Milliamperestunden ausdauernd gewärmt, wenn er im Bettchen auf ihm lag und die Decke obendrüber wieder verrutscht war. Im Unterricht hatte Linux später von Konrad Lorenz und dem Gänsemädchen Martina gehört. So wie das Küken den Zoologen als Erstes im Leben gesehen und als Mutter angenommen hatte, verhielt es sich wohl auch mit seinem Smartphone, hatte Linux sich überlegt. Irgendwie war es doch immer schon dagewesen. Vielleicht sogar gleich nach der Entbindung. Ob Vater das Gerät mitgenommen hatte zum Life-Launch seines Sohnes im Rollout-Center der Reproduktionsagentur? Gefragt hatte Linux nie, vorstellen aber konnte er sich das schon. Und es würde auch viel erklären. Es war jedenfalls vor allem diese frühe Prägung, die dazu führte, dass er so sehr an dem völlig veralteten Gerät hing. Dabei vergaß er es oft in der Hosentasche, zusammengeknüllt zwischen Rotzfahnen. Die Taschentücher lösten sich zu Mutters Missfallen im Unterleib des Reinigungsroboters flockig auf, das faltbare Phone aber ließ sich bis 60 Grad einschäumen, mit 1400 Umdrehungen schleudern. Und man musste es nicht mal bügeln. Das wäre dem iBaby 43 wahrscheinlich auch schlecht bekommen. Einfach glattstreichen genügte.
Wenn Linux wütend war, konnte es sein, dass er sein Smartphone zerknüllte und an die Wand warf, aber dann zog es ihm meistens in der Magengrube. Er sammelte es ganz schnell wieder ein, streichelte es, bis es wieder flach neben ihm lag, Wärme verströmte und eine Melodie spielte, die seinen Blutdruck sin-
ken ließ. Dabei konnte das iBaby ohne Berührung noch nicht mal seine Biodaten auslesen. Aber es reagierte auf die Frequenz seiner Stimme. Das reichte schon. Dann meldete sich die Sprachsteuerung Ultimus, die an den Tonfall seines Vaters angepasst war. Mit Ultimus richtete Linux seine ersten Social-Media-Accounts ein: bei Gossip und Chat-Tube, Mammuth und Muskerade, Brainbook, Tok-Tak, später auch bei tUktUk. Und nach den Trump-Trust-Gesetzen auch im Magaversum. Das war natürlich nur was für Nerds. Und das wusste er auch. Niemals konnte er davon in der Schule erzählen. Auch nicht, als er sein iBaby von einem Freund seines Vaters zum iBuddyXL hatte aufrüsten lassen. „Ein Kumpel von einem Computer“ hatte der Werbeslogan gelautet, was schon damals total retro geklungen hatte. Sowas besaß ja längst auch keiner mehr.
Wer brauchte das auch, wenn er eine Schnittstelle im Nacken hatte? So ein Neuroport, den alle nur „Ännpi“ nannten, war so viel smarter. Angeschlossen ans Nervensystem konnte jeder Nutzer über Funkkontakt Audiofiles von der Suprabibliothek direkt an die Nervenleitungen des Gehörs senden. Filme ließen sich kabellos ans Auge übermitteln, die Iris wiederum fungierte als Kamera. Dass der Neuroport Gesundheitsdaten 24/7 auslas und an Health-Hub und Security-System meldete, dass er von Adrenalin bis Insulin den Status der wichtigsten Hormone über Depotausschüttungen regulierte – alles kein Hexenwerk. State of the art. Damals.
Nicht nur der Vater aber hatte sich lange dagegen gewehrt. Auch die Mutter war in Sorge gewesen. Natürlich ließ sich ein Kind über den „Ännpi“ jederzeit orten. Doch auf der anderen Seite steckte im Nacken auch die Moneymaker-Technik für Kredittransaktionen. Und obwohl viele Eltern diese Funktion am Neuroport gar nicht freigeschaltet hatten, war es wiederholt auf Schulhöfen dazu gekommen, dass Kindern der Chip aus dem Nacken geschnitten wurde. Schlimm genug, dass die Kleinen stark bluteten und oft an der Wirbelsäule verletzt wurden, aber meist musste nach solch einer Attacke auch noch der Port ausgewechselt, das ganze Kind neu konfiguriert werden. Die Eltern von Linux wollten das nicht riskieren.
So ging er lange nur mit seinem iBuddy durchs Leben. Bis zu dem Tag, als ihm sein Chef klarmachte, dass er seinen Job verlieren würde, wenn er sich weiterhin der modernen Technik verweigerte. Und das verstand er ja auch. Wie sollte er mit anderen Menschen in Kontakt treten, wenn sein Bewusstsein nicht im Magaversum hochgeladen war? Wie schnell konnten dort bei den einfachsten zwischenmenschlichen Transaktionen schon ein paar Petabyte an Daten ausgetauscht werden. Ohne einen NP, der mit KI seine PI, die Persönliche Intelligenz, potenzierte und optimierte, war er ja im Grunde sprach- und gefühllos. Also ließ sich auch Linux eines Tages den Neuroport implantieren. Der Onkel war da längst tot, aber wahrscheinlich hätte er spitz und zutreffend bemerkt, dass sein Neffe wohl auch der letzte Mensch war, der einen NP eingesetzt bekam. Linux trug seinen Namen wohl zurecht. Er war eben schon als Auslaufmodell zur Welt gekommen.
Irgendwann hatten seine Kinder und Enkelkinder aufgehört, an ihm herumzumeckern, warum er sich der Zukunft verweigere. Seit er sein gesamtes Bewusstsein hochgeladen hatte ins Magaversum, war er glücklich mit seinem Port. Dass sich die Prionen in seinem Hirn verklumpten, musste ihn nicht mehr kümmern. Sein Geist war ja im Backup für immer aufgehoben. Nur sein Körper zerfiel zusehends. Gelbe faltige Haut, die Nase ädrig, die Augen tief in den Höhlen, der Rücken gekrümmt, alle Gelenke geschwollen. Linux war mit 107 Jahren zwar noch längst kein Greis, aber doch kein schöner Anblick mehr. Das wollte heute auch keiner mehr sehen. Aber genau dafür gab es ja Altkörperverwahranstalten, die Body-Storage-Lösungen mit individueller Vitalfunktionskontrolle kombinierten. Linux war damit zufrieden. Also, sein Bewusstsein oben im Magaversum war einverstanden, und sein Körper konnte damit existieren, bis der Mietvertrag im Storage-Zentrum der Firma Body Culture auslief.
Er hatte sich für seine letzten Jahrzehnte einen komfortablen Container gegönnt. Ärmere Menschen lagen in einer Röhre. Linux aber hatte Platz für Besucher, die selten kamen. Das aber machte ihm gar nichts aus, denn in seiner linken Hand spürte er das warme weiche Material seines iBuddy. Es lag da, seit er eingezogen war. Und manchmal, wenn er eine menschliche Stimme hören wollte, unterhielt er sich mit der Sprachsteuerung Ultimus übers Wetter, die Dürre, die Tornados, Überflutungen. Was alte Leute halt so wissen wollen, wenn der Tag lang und leer ist. Heute aber brauchte er Ultimus weiterlesen
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