Das Vertrauen auf die Sprache als Medium der Befriedung der zwischenmenschlichen und internationalen Verhältnisse ist tief verwurzelt in der Philosophie, aber auch in den Sozial- und Kulturwissenschaften und nicht zuletzt im politischen Leben. Wodurch könnte dieses Vertrauen mehr in Frage gestellt werden als durch den Verdacht, der Sprache wohne unvermeidlich subtile Gewalt inne?
Dass Menschen Worte anstelle von Speeren verwendeten, deutet Freud als Indiz des Beginns menschlicher Zivilisation. Sprache und Mittel physischer Gewalt, Worte und Waffen geraten in dieser Zuordnung in ein zweideutiges Verhältnis. Ersetzt Sprache physische Gewalt, um sie zu beenden, oder übernimmt sie deren Funktionen, um mit Worten Wunden zu schlagen, durch deren subtile Wirkung ein äußerlich unbeschädigtes, innerlich aber zutiefst verletztes Subjekt wie an einem unheilbaren Risse gleichsam verbluten kann, wie Nietzsche in der zweiten seiner Unzeitgemäßen Betrachtungen schreibt?
Lässt sich dem gegenüber eine gewaltfreie Sprache denken? Gewaltfrei sind wir jedenfalls nicht schon deshalb, weil wir uns einer Rhetorik des Friedens, der Gerechtigkeit oder des Guten bedienen. Allemal liegt es bei Anderen, darüber zu befinden, wie weit man wirklich in Richtung auf wenigstens geringere Gewalt vorangekommen ist. Das könnte ein Ansatzpunkt zu einem praktischen Ethos des Umgangs mit subtiler Gewalt sein: sich über sie vom Anderen her belehren zu lassen. Die Anerkennung des Befundes, dass selbst der wohlmeinendste Sprachgebrauch nicht umhin kann, eine im Vorhinein niemals ganz und gar absehbare Verletzbarkeit Anderer heraufzubeschwören, nötigt allerdings nicht dazu, im Anderen die unanfechtbare Autorität eines Opfers zu sehen.
Sozialphilosophie, Sprachphilosophie, Rhetorik, Phänome-nologie – Gewaltforschung, Lebensform und Sensibilität, Ethos und Gastlichkeit – H. Arendt, J. Derrida, E. Levinas, J. Rancière, P. Ricoeur
Worte sind Taten, behauptete Wittgenstein. Man kann mit ihnen verletzen und Gewalt ausüben. Eine weit verbreitete Rhetorik der Gewaltlosigkeit vertraut aber unverdrossen auf die Sprache als im Geist möglichst gewaltloser Verständigung einzusetzendes Mittel der Befriedung der zwischenmenschlichen und internationalen Verhältnisse. Was könnte dieser Hoffnung auf subtilere Weise in den Rücken fallen als der Verdacht, auch die Sprache sei unvermeidlich mit Gewalt kontaminiert? Muss es als bloßes Vorurteil gelten, dass sich die Gewalt allemal massiv ereignishaft zeigt und dass sie auf unverkennbare Art und Weise zerstört, verwundet und verletzt? Wohin geraten wir, wenn sich der Verdacht erhärten sollte, dass die Gewalt subtil in der Sprache und in ihrem verständigungsorientierten Gebrauch Wurzeln schlägt, so dass sie vielfach kaum mehr als Gewalt zu erkennen ist?
Diese Frage führt auf den Weg einer ausstehenden Sensibilisierung für den inneren Zusammenhang von Gewalt und Sprache, ohne die kein Bekenntnis zur Gewaltlosigkeit glaubwürdig erscheinen kann. Jeder Versuch, in Richtung einer größeren Sensibilität für subtile Gewalt vorzustoßen, sieht sich mit einer Reihe von Schwierigkeiten konfrontiert, die eng mit der vorherrschenden Fixierung des Gewaltdiskurses auf Fragen der Rechtfertigung und der Legitimation von Gewalt zusammenhängen. In der Annahme, zumal in politischen Lebensformen gehe es darum, die Gewalt entweder auszurotten, zu minimieren oder wenigstens in ihrer Rechtfertigung und Legitimation 'aufzuheben', hat man sich derart auf Begründungsprobleme konzentriert, dass die Phänomenologie der Gewalt-erfahrung weitgehend vernachlässigt worden ist.
Kritisch gegen Ideen der Rechtfertigung, der Legitimation und des Gewalt-Verzichts gewendet, eröffnet das Buch die praktische Perspektive einer Kultur menschlicher Sensibilität für 'unaufhebbare' Gewalt. Dabei knüpft es zwar an die vorrangig auf Fragen der Rechtfertigung konzentrierten Debatten um explizite Gewalttätigkeit an, zielt aber auf die Erhärtung des Verdachts eines engen Zusammenhangs von Sprache und Gewalt ab. Es geht also um Gewalt, die in und mit Worten geschieht und uns geradezu als 'sprechende Gewalt' begegnet, wie am Beispiel verächtlicher Rede deutlich wird. Daran schließt sich eine Auseinandersetzung mit der Frage an, ob dieser Zusammenhang eine gewaltsame Sprachverachtung provoziert und wie es um Spielräume rhetorischer Gegen-Macht bestellt ist, die vor solcher Verachtung bewahren könnten. Sollten sich diese Spielräume als weitgehend rechtlich unkontrollierbar erweisen, so sind wir vor selbstgerechter Überschätzung des Rechts sowie der Legitimationsfrage gewarnt. Während der Standpunkt weit verbreitet ist, allein das Recht verspreche eine angemessene Antwort auf die Provokation der Gewalt in allen ihren Erscheinungsformen, wird hier Aspekten subtiler (aber vielfach durchaus 'einschneidend' verletzender) Gewalt nachgegangen, die bislang nicht einmal als Gewalt angemessen beschrieben und verstanden worden sind und die schon deshalb allzu leicht einer aufs Recht fixierten Analyse entgehen.
Aufmerksamkeit für diese Erscheinungsformen subtiler Gewalt lehrt demgegenüber, in welchem Ausmaß wir mit der Erfahrung sprachlicher Verletzbarkeit leben müssen, ohne auf deren juridische Entschärfung hoffen zu können. Das Buch mündet schließlich in die Frage nach einem praktischen Ethos des Umgangs mit unaufhebbarer Gewalt, das sich im Lichte der sondierten Topographie subtiler Gewalt abzeichnet: als ein Ethos der Wahrnehmung Anderer in ihrer Verletzlichkeit (die sie aber nicht als unanfechtbare Autoritäten inthronisiert); als ein rhetorisches Ethos originärer Artikulation ihrer Erfahrung und als ein Ethos der Sensibilität, das nicht zuletzt für die subtile Gewalt einen wachen Sinn haben müsste, die eine Rhetorik des Guten, des Gerechten und des Friedens mit sich führen kann. Unterlässt man es, die Spielräume sprachlicher Verletzbarkeit zu erkunden, so wird selbst die subtilste Gewaltforschung womöglich nur zu einer Art Normalisierung der Gewalt führen – nach dem Motto: 'Man bedient sich der Gewalt mit um so weniger Skrupeln, als sie, wie man sagt, den Dingen innewohnt' (Merleau-Ponty).weiterlesen