Während Sehen und Hören im Kontakt des Menschen mit Gott eine große Rolle spielen und auch der Tastsinn durch Berühren des Heiligen mit Hand und Mund miteinbezogen ist, sind Geruch und Geschmack als religiöse Sinneswahrnehmungen dem modernen Menschen kaum noch bewusst. Der durch seine Publikationen zur Bedeutungsforschung weithin bekannte Germanist und Mediävist Ohly legt eine semantische Studie vor, die den ganzen Bedeutungsreichtum des Wortes »süß« wie auch des lateinischen »dulcis« anhand ausgewählter Quellen aus Theologie und Dichtung aufzeigt. Dabei wird deutlich, dass »süß« über die Sinneswahrnehmung des Geschmacks weit hinausreicht; die Stimme kann süß sein, der Ruhm, ja selbst Gott. Und gerade hier erweist sich, dass die Süße Gottes nicht mehr geschmacklicher, sondern theologischer Qualität ist. Durch ihre Funktion als Gnadenspenderin und -vermittlerin wird auch Maria mit dem Attribut »süß« bedacht. Das mittelhochdeutsche »süeze« konnte regelrecht für das Wort »genâde« eingesetzt werden. In der süßen Last des Crucifixus wie auch in dem süßen Brot des Abendmahls liegt Gottes Gnade. Die von Ohly vorgelegte Bedeutungserschließung des Wortes »süß« im Gott-Mensch-Bezug ist nicht nur für den Philologen und den Theologen von Interesse, sondern kann auch dem Kunsthistoriker zu einem vertieften Verständnis manch ikonographischer Einzelheit dienlich sein, man denke etwa an »die süßen Nägel«, durch deren Wundenentstehung des erlösende Blut auf den unter dem Kreuz ruhenden Adam herabtropft. Die mit reichen weiterführenden Anmerkungen versehene Untersuchung bietet insgesamt einen Zugang zum Verständnis religiöser Sprache des Mittelalters. Register.weiterlesen