Ricarda Kiels zweiter Band „Tante Alles“ ist ein weicher Beutel, der autofiktionale Gedichte, Prosa-Miniaturen und verdichtete Tagebucheinträge enthält. Es geht darin natürlich um das Tantensein, aber eben auch um Alles – um das Zeugen oder Nicht-Zeugen von Kindern, um Kinder, die sterben und welche, die leben, um Krähen, um die Bedeutung von Familie und Freund:innen, um Salzstangen und Geschlechtsidentität.
Standortbestimmung eines Monds
ich hielt jahrelang
Gedankenkindern die Händchen
beantwortete ihnen alle Fragen
und musste doch nichts tun
der Bruder bekam ein Kind
zu früh oder zu spät
das starb nach sieben Tagen
auf einer vulkanischen Insel
wir sagten wir probieren es
und es passierte nichts
außer dass die Schwester
of another mother
es auch probierte
und ein Kind bekam
und ich noch vor ihr
die dunklen nassen Locken
auf seinem Schädel sah
ich zerbrach an beiden Babys
vor Liebe und Liebe
aber nur fast und wir probierten
es manchmal weiter und einmal
trug ich eine Weile etwas
das ein Kind hätte werden können
und eine Weile danach
gebar ich mich selber neu
ich bin jetzt eine männliche Tante
und ein weiblicher Onkel
und eigentlich ein Mond
der jede Nacht woanders aufgehtweiterlesen