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The Great Repair

Praktiken der Reparatur/A Catalog of Practices

Produktform: Buch / Einband - flex.(Paperback)

The Great Repair Praktiken des interstitiellen Wandels Text: Florian Hertweck, Christian Hiller, Felix Hofmann, Markus Krieger, Marija Marić, Alex Nehmer, Anh-Linh Ngo, Milica Topalović, Nazlı Tümerdem The Great Repair ist ein Oxymoron. Im Titel treffen zwei scheinbar gegensätzliche Prinzipien aufeinander: Die revolutionäre Ambition des radikalen Systemwechsels, ein Wesensmerkmal großer Lösungen, kollidiert mit dem evolutionären Akt der Reparatur. Denn trotz aller berechtigter (postmoderner) Skepsis gegenüber der Revolution als Denkfigur des Bruches dürfen wir den Anspruch auf tiefgreifende Veränderungen nicht aufgeben. Ähnlich formuliert es die Philosophin Eva von Redecker in dieser Ausgabe: „Wir stehen gegenwärtig vor einem so immensen Transformationsbedarf, dass es geradezu absurd wäre, den Maximalbegriff für Wandel auszuklammern, den wir in unserem politischen Vokabular haben. Dann ist die Frage, wie man ihn füllt. Ich verstehe Revolution tatsächlich viel weniger als Bruch und mehr als interstitiellen Wandel, also als Wandel, der über die und aus den Zwischenräumen des Alten heraus das Neue schafft." An diesen brüchigen Zwischenräumen im Bestehenden kann die Reparatur beginnen. Mit diesem Verständnis von Revolution als „Prozesse des sukzessiven Austauschs“ von „Ankerpraktiken“ bietet Eva von Redecker zudem einen praxisorientierten Ansatz für Wandel an. Aus dieser Perspektive geht es bei gesellschaftlichen Transformationen nicht in erster Linie um die Abschaffung einer sozialen Ordnung, sondern auch und vor allem um den Austausch ihrer sozialen Praktiken. Der Umbau einer Gesellschaft kann so nur im Wechselverhältnis der Veränderungen ihrer Politiken und Praktiken begriffen werden. Denn soziale Ordnungen sind keine abstrakten Setzungen. Sie müssen fortwährend in der Praxis hervorgebracht und reproduziert werden. Diesen Nexus bringen die beiden sich ergänzenden Ausgaben The Great Repair – Politiken der Reparaturgesellschaft und The Great Repair – Praktiken der Reparatur zum Ausdruck. Sie sind explizit nicht als Trennung von Theorie und Praxis zu verstehen. So wie Praktiken den Kontext von sozialen Ordnungen und soziale Ordnungen den Kontext von Praktiken bilden,4 spiegeln die beiden Ausgaben den „Kontext“ des jeweils anderen Feldes wider. Doch nicht nur soziale Ordnungen und Praktiken sind untrennbar verbunden, auch die Praktiken selbst existieren nicht isoliert, sondern sind stets mit anderen verknüpft. In diesem Sinne haben wir auch die vorliegende Ausgabe, die als Katalog zur gleichnamigen Ausstellung in der Akademie der Künste in Berlin dient, nach sich gegenseitig bedingenden Praktiken organisiert. Die Grundfrage lautete, um mit Eva von Redecker zu sprechen, welche „Ankerpraktiken“ ausgetauscht werden müssten, damit wir nicht nur einen Missstand fixen, sondern das System reparieren können. Das vorherrschende Narrativ einer grünen, wachstumsorientierten Transformation verspricht, die Klima- und Ressourcenkrise allein mithilfe technologischer Innovation in den Griff zu bekommen. Solche Visionen mit ihrem Effizienz- und Konsistenzversprechen sind im Grunde Technofixes, die das extraktive Paradigma nicht überwinden. Es sei denn, das produktive System ist in der Lage, alle Material- und Energiekreisläufe zu schließen, was unter den heutigen technologischen Bedingungen undenkbar ist. Es hat sich nämlich gezeigt, dass die verschiedenen „smarten“ Lösungen oft gut mit unterschiedlichen Formen des staatlichen und unternehmerischen Konservatismus kompatibel sind. In der Architektur jedenfalls impliziert die Technofixerzählung den Abriss von Gebäuden und deren Ersatz durch nur scheinbar nachhaltige Neubauten. Dadurch wird viel graue Energie vernichtet (von der kulturellen Energie und den gemeinschaftlichen Ressourcen ganz zu schweigen). Technofixes verändern nicht die Ankerpraktik des Bauens, die für rund 38 Prozent der weltweiten Treibhausgase, für Versiegelung, Ressourcen- und Artenschwund verantwortlich ist. Ein reparativer Ansatz wäre hingegen, nicht abzureißen und „effizienter“ neu zu bauen, sondern um- und weiterzubauen. Mit dem zu arbeiten, was bereits da ist, sowohl auf materieller Ebene als auch hinsichtlich der Akteur*innen. Mit dem Bestand arbeiten Mit dem Bestand arbeiten heißt – im buchstäblichen wie übertragenen Sinne – nicht Denkmalpflege, sondern Substanzpflege. Dabei werden die vorhandenen materiellen Artefakte und das ökologische und soziale Gefüge als Ausgangspunkt akzeptiert, ohne eine rückwärtsgewandte Restauration oder unkritische Übernahme zu verfechten. Reparatur basiert auf einem potenziellen Nutzwert; sie ist grundsätzlich nicht konsumorientiert. Reparieren heißt daher, etwas wieder parat zu machen, also bereit zu machen für die Weiterverwendung. Der Akt des Reparierens lebt von dem Bewusstsein, dass etwas beschädigt, kaputt ist. Dieses Bewusstsein für den Schaden kann dazu beitragen, die Produktionsbedingungen und den Gebrauch kritisch zu hinterfragen – und zu verändern. Auf diesem Veränderungswillen fußt das Projekt The Great Repair, das jedoch nicht im üblichen Sinne von modellhafter nachhaltiger Architektur handelt. Denn der Erhalt und die Umnutzung von Bestandsbauten und Infrastrukturen – von denen viele, wie etwa Straßen- oder Stromnetze, planetarische Ausmaße haben – ist nicht nur eine ökologische, sondern auch eine soziale Zukunftsaufgabe. „Behutsamkeit als raumpolitisches Prinzip“ nannte Andrej Holm diesen Ansatz in Bezug auf die Praxis der Instandbesetzung und das Konzept der behutsamen Stadterneuerung Berlins von Hardt-Waltherr Hämer in ARCH+ 252 Open for Maintenance – Wegen Umbau geöffnet. Die Pflege und Instandhaltung der Bausubstanz im Alltag gewinnt dadurch einen neuen Stellenwert: Die regelmäßige Reinigung von Oberflächen, die Wartungsarbeiten und Reparaturen von Infrastrukturen verlängern den Lebenszyklus der gebauten Umwelt. Aus diesem Blickwinkel wird deutlich, welchen Anteil auch Reinigungskräfte und Handwerker*innen neben Planer*innen und Ingenieur*innen an der nachhaltigen Bestandspflege haben. Doch ihre Rolle wird häufig nicht wahr genommen, ihre materiellen Kenntnisse der gebauten Umwelt werden nicht wertgeschätzt. Um dieses Wissen ins Bewusstsein zu rufen, macht The Great Repair den Umgang mit dem Gebäude der Akademie der Künste am Hanseatenweg, seiner Geschichte der Instandsetzung und seiner alltäglichen Pflege zum Thema. Mit dem Alltag beginnen Die Auseinandersetzung mit dem materiellen Erbe beinhaltet damit auch eine konzeptuelle Kritik an der Disziplin – an einer Architekturvorstellung, die die Räume der Repräsentation gegenüber den Räumen der Reproduktion vorrangig behandelt. The Great Repair kehrt dazu den gewohnten Rundgang in der Akademie der Künste am Hanseatenweg um und erschließt die Ausstellungshallen über den Servicebereich und ein Nebentreppenhaus. Die räumlichen Eingriffe machen die reproduktive Arbeit der Institution öffentlich. Dies geschieht auch durch die Beteiligung der Reinigungskräfte der Akademie der Künste an dem Projekt. Zum einen werden ihre Utensilien und Arbeitsbedingungen aus dem Verborgenen geholt und als Teil der Ausstellung installiert. Zum anderen dokumentierte die Fotokünstlerin Zara Pfeifer die alltäglichen Reinigungsarbeiten, die normalerweise unsichtbar gemacht werden. In ihren Fotografien wird die handwerkliche Expertise der Sorgearbeiter*innen als eine Form des verkörperten Wissens offengelegt und gewürdigt – ohne die Menschen dahinter bloß- oder auszustellen. Dieser Ansatz veranschaulicht, dass Praktiken immer auch inkorporiert, körperlich verankert sind. Sie umfassen neben den Menschen auch Artefakte und nicht-menschliche Akteure, die, so der Soziologe Andreas Reckwitz, ebenso „Träger“ sozialer Praktiken sind.8 The Great Repair weist damit auf die häufig übersehene Materialität sozialer Praktiken und ihren Stellenwert als Teil der kulturellen und sozialen (Re)Produktion hin. Praxis reparieren / Reparatur praktizieren Die geringe Anerkennung körperlicher und reproduktiver Arbeit führt in vielen Bereichen zunehmend zum Verlust handwerklichen Wissens. Im Bauen setzte dieser Prozess bereits in der Neuzeit mit der Trennung von Architektur als entwerfender Disziplin und ausführendem Handwerk ein. Die Herausbildung der Architekturtheorie in der Renaissance diente nicht zuletzt der Abgrenzung und damit der Privilegierung der geistigen gegenüber der körperlichen Arbeit, der immateriellen gegenüber der materiellen, des „kreativen“ Anteils der Disziplin gegenüber den anderen Gewerken.9 Wenn wir die Architekturpraxis mit ihren inhärenten sozialen Ungleichheiten „reparieren“ wollen, müssen wir eine Selbstreparatur der Disziplin angehen. Wir müssen dafür die Arbeitsbedingungen, die Architekturausbildung, die Hierarchien und veralteten Selbstbilder grundlegend infrage stellen. Letztlich auch das Selbstverständnis von Architekt*innen, immer mehr Häuser bauen zu müssen. Für Eva von Redecker stellt das viel diskutierte Neubau-Moratorium von Charlotte Malterre-Barthes den radikalsten Ausdruck der Selbstreparatur dar. Selbst wenn es nur als Provokation tauge, biete es eine produktive Vision: „Eine andere Art, das Neubaumoratorium auf den Punkt zu bringen, wäre, es als Vision für eine No-dig-Baubranche zu beschreiben. Die Chiffre no dig ist so konkret, dass es erstaunt, wie übertragbar sie dennoch ist. Dieser Imperativ lässt sich auf die fossile Energieversorgung übertragen, als Forderung nach einem Ende des Extraktivismus unter dem Slogan Leave it in the ground.“ Dinge auch mal sein zu lassen, sie nicht zu tun, kann man in die Raumproduktion auch so übersetzen, dass wir Dinge nicht um des Neuen willen „neu gestalten“, d. h. das Bestehende zerstören, sondern die knappen Ressourcen für dessen Pflege aufwenden. Diesen Ansatz haben Lacaton & Vassal bei ihrem wegweisenden Projekt Place Léon Aucoc in Bordeaux verfolgt, als sie es ablehnten,den funktionierenden Platz neu zu entwerfen, und stattdessen das Budget für dessen Instandhaltung einsetzten. Wissenswelten dekolonisieren Dies käme einer tatsächlichen Reparatur der Ankerpraktik Bauen gleich, nicht zuletzt, weil beim Bauen über zwei Drittel der CO2-Emissionen durch Arbeiten im Untergrund verursacht werden, etwa für die Fundamentierung und für unterirdische Geschosse. Obwohl diese Fakten bekannt sind, verändert sich die Praxis nur langsam. Dies liegt zum Teil daran, dass für eine grundlegende Praxisreparatur neben wissenschaftlicher Expertise auch solche Nicht-Expert*innen-Kompetenzen und Wissensformen erforderlich sind, die vielfach durch technokratische, profitorientierte und koloniale Verhältnisse verdrängt, marginalisiert und zerstört wurden. Dieser Verlust umfasst auch Wissen über regenerative Landnutzung, Materialgewinnung und Bautechniken. Dazu gehören indigene pluriversale Epistemologien, wie die Arbeiten der Inga-Gemeinschaft in Kolumbien in Zusammenarbeit mit Santiago del Hierro, Marjetica Portč und anderen Künstler*innen zeigen, aber auch alle anderen praxisbasierten, situierten und sozialisierten Formen des Wissens außerhalb des technowissenschaftlichen Paradigmas. Das Projekt einer großen Reparatur muss in diesem Sinne unsere Wissenswelten dekolonisieren, d. h. das Akteursnetzwerk pluralisieren und unterschiedliche Expertisen, Kompetenzen und Wissensbestände verweben. Werkzeuge für alle Mit diesen Fertigkeiten, Techniken und Kenntnissen können wir unsere Beziehungen innerhalb der sozialen und natürlichen Umwelt neugestalten und die Produktion wieder in die für ihre Reproduktion erforderlichen Zusammenhänge einbetten. Denn der Mangel an Wissen darüber, wie die Dinge, die wir benutzen, konstruiert, instandgehalten und repariert werden, führt zu immer neuen austauschbaren Waren, die ihrem Wesen nach dazu bestimmt sind, verbraucht, vernutzt und entsorgt zu werden. Um den daraus resultierenden ökologischen und sozialen Zerstörungen entgegenzuwirken, müssen wir uns die Werkzeuge der Reparatur wieder aneignen. In den Worten des Architekten Yoshiharu Tsukamoto von Atelier Bow-Wow: „Tools to the People!“ Werkzeuge für alle! Der Begriff des Werkzeugs geht jedoch über Gerätschaften hinaus und umfasst auch Werkzeuge der demokratischen Governance. In den industrialisierten Systemen der Raumproduktion, die vom Staat und den Unternehmen gesteuert werden, haben wir oft nicht die Macht, unsere eigene Umwelt und unsere Beziehungen zu reparieren. Daher sind die Vergesellschaftung der Produktionsmittel und die Demokratisierung der Regierungsführung auf verschiedenen Ebenen entscheidende Voraussetzungen für die Ermöglichung umfassenderer sozialer Praktiken der Reparatur. Wie das Projekt des Lehrstuhls Architecture of Territory nahelegt, ist „Tools to the People“ gleichbedeutend mit „Power to the People“. Die Narben sichtbar lassen Der Akt der Reparatur legt allerdings immer auch offen, was nicht repariert werden kann. Insofern beginnt Reparatur damit, das Irreparable, die Unumkehrbarkeit der Zerstörung anzuerkennen. Wir müssen wiederaufbauen, ausbessern, heilen und instandsetzen, aber wir müssen gleichzeitig zugeben, dass unsere Reparaturbemühungen die materiellen oder immateriellen Verletzungen nicht überdecken können. Die Narben sichtbar und das Gedenken lebendig zu halten gehört daher zur großen Reparatur dazu. Es geht dabei jedoch nicht nur um ein folgenloses Mea culpa, sondern um die Anerkennung der ungleich verteilten Verantwortung für Klimakrise und Artensterben entlang historisch ausgebildeter kolonialer Linien. Reparatur bekommt in dieser Lesart die aktive Bedeutung der (Klima-)Reparation. Erst wenn wir Fragen der sozialen und ökologischen Gerechtigkeit als Teil der „Praktiken des interstitiellen Wandels“ mitdenken, können wir Reparatur als gemeinsame Aufgabe angehen und wiederaufbauen, was zerstört wurde, und in dem, was repariert wurde, neue Bedeutungen finden.weiterlesen

Sprache(n): Deutsch

ISBN: 978-3-931435-80-6 / 978-3931435806 / 9783931435806

Verlag: Arch+

Erscheinungsdatum: 14.10.2023

Seiten: 216

Auflage: 1

Zielgruppe: Architektur, Bestand, Reparatur, Reparieren, Pflege, Akademie der Künste, Ausstellung, Berlin

Autor(en): ARCH+ Verlag GmbH

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