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Treibholz

Aphorismen, Sprüche, Sentenzen IV

Produktform: Buch / Einband - flex.(Paperback)

Vorwort Der Mensch ist aus krummem Holz gemacht, meinte Immanuel Kant, und setzte dem den aufrechten Gang entgegen. Kant kannte Krummholz gut von dem Treibholz her, das nach der Sturmflut an die Strände der Ostsee geschwemmt wird. Aus krummem Holz, so sah es auch der Schöpfungsmythos der Germanen, sei der Mensch geschnitzt: Ask, der Mann, aus Eschenholz, Embla, die Frau, aus der Ulme – besonders aus Schwemmholz, das man am Ufer fand. Ströme, Gezeiten schwemmen es mit dem Schmelzwasser oder der Flut an. Treibholz ist nach langer Fahrt besonders hart und hat, wenn es trocknet, eine knorrige, eben krumme Gestalt. In der Hand fühlt es sich ganz anders an als der vom Wasser geschliffene Kiesel; nicht glatt und gerundet, sondern uneben und verquer. Holz zeigt Strukturen eines Eigenwuchses, die man auch bei der Bearbeitung und Glättung noch als Maserung oder Astgabelung erkennt. Wenn man Aphorismen liest, kommen gelegentlich solche Bilder und Erinnerungen in den Blick: eine literarische Form, die ihren Eigensinn schon in der Kürze und in der fragmentarischen Unvollkommenheit erkennen lässt. Es geht dabei um eine Unvollkommenheit, die sich gleichwohl den Anschein der Vollkommenheit zu geben weiß. Treibholz wird wegen seiner Härte und Struktur gern zum Schnitzen von Skulpturen und Figuren verwendet. Dabei ist es freilich angebracht, auf den Eigenwuchs, die unregelmäßigen Linien und Ringe des Holzes zu achten, um dem Stück nicht seine Seele aus 10 dem Leib zu schneiden. Das eigenwillige Wesen fordert bei der hölzernen wie bei der literarischen Materie seinen Tribut. Nicht jeder Schnitt und Schliff passt und sitzt – beim Überschleifen des Astes ebenso wenig wie bei dem Versuch, dem Eigensinn des Aphorismus Eindeutigkeit abzupressen; er gewinnt Leben und Fahrt erst im Spiel der Farben und Bedeutungen, als sprachlicher Wechselbalg. Treibholz schwimmt, es treibt auf dem Wasser, bleibt an der Oberfläche, wird angetrieben von der Strömung, legt sich aber auch quer, je nachdem, wie es gewachsen und versehrt ist. Die Richtung seiner Bewegung, seines Bruchs, wird von Kräften bestimmt, die in ihm und auf es einwirken. Als Splitter kann es aggressiv sein und verletzen, als Bruchstück lässt es sich treiben, es spreizt sich, mit seiner abgeschliffenen Härte schießt es auch dahin wie ein Torpedo. Aber ich will die Analogien und Divergenzen nicht strapazieren. Aphorismen spielen an den Rändern der Bedeutung mit dem Wortsinn, dem Widerspruch, dem paradoxalen Schein; sie sperren sich bei allem Schliff gegen die Eindeutigkeit, die festlegt und wie der Buchstabe „tötet“. Sinn und Aussage der Worte im Satz hängen von dem gewöhnlichen Gebrauch, von der Umgebung, in der sie etwas aussagen, vom Blickwinkel, von Zeit und Ort und nicht zuletzt von ihrer Kernbedeutung ab. Gegenüber dem Bemühen um Eindeutigkeit reizt die Vieldeutigkeit und die poröse Grenze zu mehr Aufmerksamkeit, der schillernde Gebrauch oder der sperrige Eigensinn versprechen mehr Lebendigkeit und schärfen den Blick auch für das Abstruse im Normalen. Gelegentlich fesselt der plurale Sinn gerade dadurch, dass sich der Satz in 11 den „vierfachen Schriftsinn“ des sensus literalis, allegoricus, moralis und anagogicus auffächert. Die Offenheit und Kürze dieser kleinen Form ergänzen deren Schwächen zu einem stärkeren Effekt, begrenzen aber auch die Reichweite ihrer Aussagekraft; so strahlt sie die selektive Kraft eines Schlaglichtes aus, ihr fehlt aber das Charisma der sorgfältigen Differenzierung. Das setzt die Deutungsphantasie frei, verschafft ihr Atemluft und fängt zugleich den Deutungsdrang auf in der Schwebe zwischen Ironie, Widerspruch, einem skeptischen Freimut und einem Scharfsinn, der sich ambiguitätsverliebt dem Doppelsinn banaler Selbstverständlichkeiten hingibt: „Der Holzweg führt dich mitten hinein.“ – Besonders der Gegensinn ist eine sprudelnde Quelle des Aphorismus: „Wie sollte man jemandem vertrauen, der ständig die Wahrheit sagt?“ Oder auch: „Achten Sie auf die, welche hinter Ihnen stehen!“ Die Hamburger Ärztin und Holzbildhauerin Maren Neumann arbeitet mit Holz. Sie hat eine besondere Zuneigung zu Treib- und Wurzelholz, zu dessen eigenwilligem Wuchs, dessen Härte und von Wasser und Erde ‚bearbeiteter‘ Form. Ihm gibt sie mit Beitel und Klüpfel sowie mit empathischer Phantasie Gestalt. Zudem zieht sie die dunkle Seele von Eibe und Ebenholz an. Maren Neumann gibt den Bildnissen Namen und Titel; sie schlägt damit eine Brücke zum Schriftsinn und zum literarischen Ausdruck, für dessen Gestaltung durch Schärfung und Verknappung der Aphorismus den Mund spitzt und ihn sprachlich umspielt. 12 Eigensinn, artistische Kraft und Spieltrieb ringen in beiden Fällen miteinander. So wird aus der Wurzel des Weinstocks eine zum rettenden Lorbeer hin tanzende Daphne, ein Stück Treibholz zur Todesallegorie: der ‚Gast‘. Die Kugel am Ende und Beginn der steilen Bahn: Man kann darin den Kampf des Sisyphos gegen die Erdenschwere sehen. Oder: ‚Noch‘ – zwischen ‚noch Natur und noch nicht Gestalt‘. So klar diese Metamorphosen erscheinen, so offen und einladend bleiben sie für das Spiel und die Arbeit der Vorstellungskraft der Betrachtenden und Lesenden. Das krumme Holz – es hat seine Vorzüge: Es schwimmt oben, leicht und hart, es zeigt den Eigenwuchs sowie die Ambivalenzen der Natur und widersetzt sich willkürlicher, nicht anpassungsbereiter Bearbeitung. Kurz: Es kann manches zur Aufklärung dessen beitragen, was der aufrechte Gang zu verbergen weiß. Hans Norbert Janowskiweiterlesen

Sprache(n): Deutsch

ISBN: 978-3-948229-25-2 / 978-3948229252 / 9783948229252

Verlag: Edition Virgines

Erscheinungsdatum: 06.04.2021

Seiten: 140

Autor(en): Hans Norbert Janowski
Illustriert von Maren Neumann
Fotograf: Hans Neumann

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