"Untitled"
Praktiken und Reflexionsfelder der Kunsttherapie
Produktform: Buch / Einband - flex.(Paperback)
Ich habe sie nicht sehen können, die Werke von zwanzig zeitgenössischen Künstlern aus Lappland, die letzten Sommer unter dem Titel „How to read in the dark?“ für ein paar Wochen im Grimmmuseum Berlin ausgestellt waren. Daher kann ich den Titel auch nicht mit den dort gezeigten Bildern verbinden. Dennoch führt er seitdem ein Eigenleben in mir, löst Resonanzen aus, und manchmal versuche ich mir vorzustellen, was für Bilder aus der langen winterlichen Dunkelheit Lapplands wohl hervorgehen könnten. Eine andere Ausstellung habe ich hingegen besucht. Wieder war es der Titel, der mein Interesse weckte: „Paladino tra arte e letteratura“. Mich lockte zwar der Name des Künstlers, vor allem interessierte mich jedoch die im Titel angekündigte Thematik des Wechselspiels zwischen Bild und Text. Damit war nicht nur der Kontext vermittelt, in den die Werke hier gestellt waren, sondern bereits im Vorfeld meines Ausstellungsbesuches die Erwartung aufgebaut, dass Paladinos Transformationen von Lektüren ins Bildhafte auch in ihrer Prozesshaftigkeit anschaulich herausgestellt sind. Ich fuhr also nach Pisa, denn dort, im Palazzo Blu an den Ufern des Arno, war die Ausstellung zu sehen. Ganz klein, ganz fein und kaum besucht war sie, so dass man sich ungestört den fast hundert Arbeiten widmen konnte, die aus Paladinos Auseinandersetzung mit Klassikern der Weltliteratur hervorgegangen sind. In einzelnen thematischen Serien, alle in kleinem Format gehalten und auf Papier in unterschiedlichen Techniken gestaltet, eröffnen dem Betrachter neue Sichtweisen, sei es zu Homers „Illias“, Dantes „Göttliche Komödie“ oder Cervantes „Don Quijote“. Auf großen Informationstafeln präsentierte Texte spezifizierten den schon im Titel umrissenen Kontext. Als Leserin, die mit den Romanen und Texten von Italo Calvino vertraut ist, erfreute mich der explizite Bezug auf gerade diesen Dichter, der vielfach das Wechselverhältnis zwischen Bild und Wort thematisiert und es als Quelle der Inspiration für seine Arbeit beschrieben hat. Darüber und zu Calvinos Empfehlungen, warum man Klassiker lesen sollte, boten die Ausstellungstafeln Informationen (Calvino, 2003). Eine weitere Ausstellung hoffe ich noch sehen zu können, da sie Ende des Jahres erneut geöffnet sein wird. Angekündigt ist die Ausstellung als „Una mostra impossibile“. Um sie sehen zu können, muss man nach Vinci fahren, dem nördlich von Florenz gelegenen kleinen toskanischen Ort, in dessen Nähe Leonardo da Vinci geboren und aufgewachsen ist. Im Vorfeld des 500. Todestags, mit dem im Jahr 2019 das große Universalgenie geehrt werden soll, sind in Vinci siebzehn seiner Hauptwerke ausgestellt, darunter „Das Abendmahl“, „Die Dame mit dem Hermelin“ und natürlich die „Mona Lisa“ („La Gioconda“). Eine „unmögliche“ Ausstellung“ ist es in der Tat, denn so unwahrscheinlich es wäre, ein Wandgemälde wie „Das Abendmahl“ überhaupt nach Vinci zu versetzen, so unüberwindbar wären auch die Hindernisse für eine solche Zusammenschau von Hauptwerken Leonardos. Durchaus der Auffassung, dass eine Reproduktion nicht das Original ersetzen kann, sind die Ausstellungsmacher der Idee einer ‚Kunst für alle’, einer Demokratisierung der Kunst verpflichtet. Die Ausstellung soll all denen, die nicht in der Welt herumreisen können, um die Originalwerke zu sehen, dennoch eine Begegnung mit ihnen ermöglichen [1]. Der Devise gemäß, ist für die Bürger von Vinci der Besuch der Ausstellung sogar kostenlos.
Was wäre eigentlich, wenn all die erwähnten Ausstellungen, Bilder oder Texte keine Titel hätten? Wie hätte ich hier vermitteln können, worauf ich mich beziehe? Michael Butor betont in seinem Essay über „Die Wörter in der Malerei“, dass wir unbedingt Titel brauchen, „um die Bilder in Gesprächen und Untersuchungen zu benennen“ und meint, dass sich durch den Titel „nicht nur die kulturelle Stellung des Werkes verändert, sondern auch der gesamte Kontext, in dem es sich uns zeigt“ (Butor, 1992: 15). Dabei dienen Titel mehr als nur der Bezeichnung und sind mehr als nur Rezeptionshilfen für den Betrachter, denn sie tragen Bedeutungen, legen Pfade zum Bild und erzeugen Erwartungshorizonte. Für den Künstler selbst sei die Betitelung sogar „konstitutiv für den künstlerischen Schaffensprozess“, meint Tobias Vogt in seiner Dissertationsschrift, „und zwar unabhängig davon, wer wann den Titel verleiht“ (Vogt, 2006: 13). Die hier zwischen Schaffensprozess, Kunstwerk und Titel gezogene Verbindung lässt sich mit Arthur C. Dantos Auffassung verbinden. Er schreibt nämlich den „reinen Dingen“ im Gegensatz zu Kunstwerken keinen Anspruch auf Titel zu und begründet dies damit, dass Dingen die Bezogenheit (aboutness) fehle, über die hingegen ein Kunstwerk verfüge (vgl. Danto, 1991: 19).
Doch nicht immer weist der Titel auf die Bezogenheit des Werkes hin. Vielmehr gibt es bedeutungsreduzierte und mit Bedeutung überladene Titel, unter denen sich dann wiederum Titel unterscheiden lassen, die passend oder unpassend, rätselhaft oder irritierend sind oder im Widerspruch zum Bildinhalt stehen. Einen Sonderfall stellt der Bildtitel Untitled dar. Seit den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts ist er bis heute der am meistvergebene Bildtitel. Er beinhaltet die Paradoxie etwas nicht Benennbares zu benennen, hebt jedoch die Differenz nicht auf, die zwischen Wort und Bild eben doch unüberbrückbar bleibt. Ebenso kann, wie Sandra Danicke anmerkt, Untitled für die Idee stehen, „dass ein Werk nicht etwas Bestimmtes bedeuten soll oder etwas Eindeutiges mitteilen will“ (Danicke, 2014: 4). Welcher Titel auch gewählt wird: die Titelstrategien sind so vielfältig und wandlungsfähig wie der Kunstbetrieb, die jeweils aktuellen Kunsttheorien und die sich ändernden Rezeptionsweisen, die als Einflussfaktoren auf die Titelvergabe zu berücksichtigen sind. Manchmal provozieren Titel auch. Das muss einer Bereicherung der Wahrnehmung eines Werkes nicht entgegenstehen und kann einem Werk sogar besondere Aufmerksamkeit verschaffen. So avancierte Duchamps Gemälde „Nu descendant un Escalier No. 2“ zum „meistreproduzierten Kunstwerk in Amerika“ (Vogt, 2006: 34). Als er es 1912 im Salon des Independents einreichte, wurde ihm die Annahme des Bildes verweigert. Ungewöhnlich war schon, dass er eine die Treppe heruntersteigende Frau für bildwürdig hielt. Doch mit dem Bildtitel, den er zudem am linken unteren Bildrand in das Bild hinein gesetzt hatte, durchbrach er die damals üblichen Betitelungsweisen. Dem Vorschlag, doch wenigstens den Titel zu ändern folgte er nicht, sondern verzichtete auf eine Beteiligung an der Ausstellung und kommentierte dies so: „Für mich war der Titel sehr wichtig. Ich war an Ideen interessiert – nicht nur an visuellen Produkten. Ich wollte die Malerei wieder in den Dienst des Geistes stellen“ (zit. nach Steiner, 1993: 120). Das Vordringen des Titels in den Bildkontext steht nicht zuletzt für die Bedeutung, die Duchamp der Sprache in der Kunst beimaß. Was hier seinen spektakulären Anfang fand, setzte Duchamp in seiner weiteren künstlerischen Produktion programmatisch fort, um, wie Vogt herausstellt, die Kunst in ihrer intellektuellen Wirkung gegenüber einer nur augenscheinlichen aufzuwerten (ebd.: 48).
Als Paratext des Bildes ist der Titel meist auf einem Wandetikett neben dem Werk angebracht. In seiner beziehungsstiftenden und rezeptionssteuernden Funktion scheint das Wandetikett den Bedürfnissen des Betrachters nach Zeitersparnis entgegenzukommen. W.J.T. Mitchell beschrieb, was jeder im Museum oder einer Ausstellung beobachten kann (oder wie man selbst verfährt), dass nämlich der Betrachter „der kurzweiligen Lektüre des Titels“ den „Vorzug gegenüber langwieriger Kunstbetrachtung“ gibt, ja, dass dem Wandetikett mehr Aufmerksamkeit geschenkt wird, als dem Werk selbst (Vogt, 2006: 25). Auch wenn das Wandetikett einer kontemplativen Werkbetrachtung entgegenstehen kann, behauptet es sich dennoch als bedeutsames Beiwerk des Bildes. Für Butor ist es ein „gewissermaßen an dem Werk“ haftender, wesentlicher Bestandteil, dem er sich nicht entziehen könne. Er schreibt dazu: „Ich meine das kleine Rechteck aus Messing, Goldpapier oder Plexiglas auf dem Rahmen oder dicht daneben an der Wand, das zu befragen ich mir nicht entsagen kann“ (Butor, 1992: 12).
Nun kann man fragen, ob es denn nicht der bessere Weg wäre, ein Kunstwerk ohne Beiwerk zu betrachten. Es sind ja auch nicht allein die Wandetiketten, die ein Kunstwerk mit Worten umgeben. Butor beschreibt, wie er 1992 bei seiner „ersten Erkundung der National Gallery in Washington“ überrascht davon war, dass ein großer Teil der Besucher die gleichen Wege zurücklegte und ihre Blicke „genau die gleiche Zeit vor jedem Bild“ verharrten, denn sie hatten „wie Schwerhörige einen kleinen Kopfhörer im Ohr …“ (ebd.: 10). Seine Auffassung über den Nutzen dieser damals noch neuen, heute aber kaum noch wegzudenkenden Audioguides deutet sich in der Bezeichnung „wie Schwerhörige“ an. Angeli Janhsen blickt aus der heutigen Zeit auf dasselbe Phänomen und äußert sich weniger diskret. „Audioguides informieren und Audioguides machen unfrei“ schreibt sie und hebt hervor, dass die Besucher dadurch „völlig abgeschnitten von der Kunst und ihren Gesprächspartnern“ sind (Janhsen, 2013: 1). Mit dem Zugeständnis, dass es durchaus nützliche Guides gibt, wendet sie sich gegen deren beanspruchte „Deutungshoheit“. „Kunst selbst sehen“ betitelt sie ihr Büchlein, mit dem sie den Betrachter aus der Abhängigkeit von Audioguides befreien möchte. Der Schlüssel zu einer eigenständigen Kunstbetrachtung scheint für sie in der Fähigkeit zu liegen, die richtigen Fragen stellen zu können. Und so ist es auch ein Fragenbuch, das sie dem Betrachter in die Hand gibt. Bevor ich die Paladino-Ausstellung besuchte, hatte ich mich mit diesem Büchlein befasst und mir auf einer Seite ein paar Fragen daraus notiert. Aber erstens gab es sowieso keinen Audioguide für diese Ausstellung und dann hatte ich auch kein Interesse, mich von den notierten Fragen leiten zu lassen.
Mit unserem Aufruf für Beiträge in KUNST & THERAPIE zum Thema Untitled hatten wir einen für Texte ungewöhnlichen Titel gewählt. Anstelle eines bestimmten Themas werden in diesem Heft nun unterschiedliche, persönlich besonders bedeutsame kunsttherapeutische Fragestellungen Raum erhalten. In den drei Beiträgen zum Titelthema wird deutlich, dass sich die AutorInnen mit ihrem jeweils gewählten Thema bereits über einen langen Zeitraum auseinandergesetzt haben und es ihnen sogar zu einer Herzensangelegenheit geworden ist. Daniel Behrmann greift in seinem Beitragstitel das „Untitled“ auf, spezifiert ihn durch den Zusatz „Intimacy“ und konturiert eine Ästhetik der Intimität, die sich in der Kunsttherapie als Sorge um den Anderen wie auch als existentielle Sorge um sich selbst entfaltet. Sabine Riesenhuber geht der Frage nach, wie das Wechselverhältnis von Bild und Sprache im Kontext wissenschaftlicher Forschung berücksichtigt wird. Sie legt dar, wie das Bild zunehmend ins Forschungsinteresse gerückt ist und als Informationsquelle dient. Romana Weilguni zeigt am Beispiel der Kunsttherapie mit alten Menschen auf, wie sich Betty Josephs Ansatz der Übertragung als Gesamtsituation für die Kunsttherapie eignet und ergänzt ihre Ausführungen durch einen informativen Überblick über Studien, Projekte und Initiativen, in denen künstlerische und kunsttherapeutische Vorgehensweisen in der Arbeit mit alten Menschen eingesetzt werden. Ebenfalls mit besonderer Deutlichkeit hebt sich in den Beiträgen aus den Praxisfeldern der Kunsttherapie das Engagement hervor, mit dem sich hier die Autorinnen für die Weiterentwicklungen der Kunsttherapie einsetzen. Nicola Gast stellt ihr Konzept begleiteter ‚Streifzüge durch die Umgebung’ vor, das sie im Kontext der stationären Behandlung jugendlicher PatientInnen mit Anorexie durchführt. Ingrid Baker-Bourlauf hat für die Kunsttherapie mit psychisch kranken älteren Menschen einen rezeptiv-therapeutischen Ansatz entwickelt und analysiert die sich damit eröffnenden Veränderungspotenziale. Beide Autorinnen gehen neue Wege, indem sie den urbanen Außenraum in ihre kunsttherapeutische Arbeit einbeziehen und so das Behandlungssetting erweitern. In unserern SHORT CUT-Beiträgen finden Sie wieder spannende Projektberichte und Ausstellungsbesprechungen. Stefanie Nahler und Ulrike Stegmiller beschreiben ihr Pilotprojekt, das sie in Kooperation mit dem Ulmer Museum durchgeführt haben und das sie als Beitrag zur lokalen Mitgestaltung von gesellschaftlich-kulturellen Inklusionsprozessen verstehen. Als Teilnehmerin an einem künstlerischen Projekt legt Sofia G. Capkova dessen Rahmenbedingungen dar und gewährt Einblicke in ihre ganz persönlichen Auseinandersetzungen mit der künstlerischen Aufgabenstellung. Peter Sinapius war in den Hamburger Deichtorhallen und hat sich die dort ausgestellten Fotografien von Phillip Toledano angeschaut. In seiner Ausstellungsbesprechung stellt er die einzelnen Bilderstrecken vor, mit denen Toledano gerade die aus unserem Leben ausgegrenzten Themen zur Anschauung bringt. Eva Meschede stellt eine Ausstellung vor, in der vierzehn Künstlerinnen und Künstler, die alle auch in der kunsttherapeutischen Lehre tätig sind, ihre Werke zum Thema Raum zeigten. Dabei hebt sie die angesichts der medialen Veränderungen notwendige Hinterfragung des Raumbegriffs hervor und lässt durch eine exemplarische Auswahl von Statements die Künstler selbst zu Wort kommen. In beiden Ausstellungsbesprechungen zeigt sich, wie sehr sich künstlerische und kunsttherapeutische Themenstellungen durchdringen, so dass einmal mehr das therapeutische Potenzial der Bildenden Künste aufscheint. Wie gewohnt schließt sich ein ausführlicher Rezensionsteil an, den Sie auf keinen Fall versäumen sollten! Dort haben unsere Rezensentinnen und Rezensenten für anregende Buchbesprechungen gesorgt.
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