Im September 1906 eröffnete in der Nähe von Saalfeld die „Freie Schul-gemeinde Wickersdorf“ ihre Tore – ein Landerziehungsheim, das nie eines sein wollte, sondern sich im visionären Überschwang ihres charismatischen Mitbegründers, Gustav Wyneken, als Stätte einer Jugendkultur mit gesell-schaftsverändernden Ambitionen verstand. Schon zeitgenössisch polarisierte das Projekt die Öffentlichkeit und zog eine Vielzahl in- und ausländischer Besucher und Beobachter an. Umstritten blieb stets Wynekens Bestimmung des pädagogischen Verhältnisses durch sein Konzept des „pädagogischen Eros“, das die Schule auch in Verruf brachte und in tiefe Krisen stürzte. Andererseits zeichnete sich die FSG durch ein damals sehr wohl innovatives pädagogisches Angebot aus, das durch Stichworte wie Koedukation, Internationalität, religiöse Toleranz, Askese, musikalische und künstlerische Bildung nur in Ansätzen beschrieben ist.
Die vorliegende Studie rekonstruiert die Geschichte der „FSG Wickersdorf“ und ihres pädagogischen Profils anhand markanter Ereignisse, Krisen und Konflikte. In exemplarischen Fallstudien untersucht sie zudem materialreich die konfliktreiche Kommunikation Gustav Wynekens mit seinen Schülern und kritischen Eltern, die sich seiner dogmatischen Weltanschauung und seinem Verständnis als geistiger Führer ihrer Kinder widersetzten. Zugleich gibt die Studie Einblicke in die Soziologie der Schüler- und Lehrerschaft der „FSG Wickersdorf“ und beschreibt deren politisch erzwungene Umwandlung in eine „Deutsche Oberschule“ während der NS-Diktatur und damit die Destruktion einer Idee, die faszinierend und problematisch zugleich war.weiterlesen