Was unterscheidet den Menschen vom Tier? Lange Zeit war die einleuchtende Antwort auf diese Frage: die Sprache. Aber je genauer die Zoologen beobachten, desto deutlicher wird, dass auch Tiere „sprachliche" Signale aussenden und verstehen. Den Unterschied macht der menschliche Umgang mit der Sprache – nicht nur ihre schriftliche Fixierung, sondern auch ihre Reichweite: Sie schafft die Möglichkeit, die Grenzen von Raum und Zeit und sogar die Wirklichkeit zu überschreiten; sie erschließt Geschichte und bringt Geschichten hervor. Etwas pointiert könnte man sagen: der gesuchte Unterschied liegt im Erzählen.
Und zwar nicht nur im literarischen Erzählen und in den als „Narrativ" gefeierten wissenschaftlichen Entwürfen, sondern auch in der Durchwirkung der alltäglichen Kommunikation mit Erzählungen. Dieser bunten Erzählwelt wendet sich Hermann Bausingers Buch zu. Es konzentriert sich zunächst auf die persönlichen Geschichten, mit denen sich die Leute in ihrem gesellschaftlichen Umfeld orientieren, aber auch an ihrem Selbstbild arbeiten. In einem zweiten Teil richtet sich der Blick auf verfügbare Erzählformen, die teilweise in einer langen Tradition stehen. Einen zentralen Platz nehmen dabei die Märchen ein, aber auch Legenden, moralische Geschichten – und auch die Vielfalt der Witze gehört in diesen Zusammenhang. Der abschließende dritte Teil des Buches greift das Problem der sprachlichen Bedingungen auf und zeigt, wie die Sprachwirklichkeit Möglichkeiten des Erzählens schafft, aber auch begrenzt.weiterlesen