Der Ausgangspunkt der Untersuchung ist eine Sammlung von circa 150 Kompositionen, Improvisationen, Klanginstallationen, Happenings, Performances - kurzum: musikalischen Arbeiten von Menschen mit Tieren oder Tierlauten, die im anhängenden Werkkatalog dokumentiert wird. Die Sammlung erstreckt sich ausgehend von einem möglichst weiten Musikbegriff und einer möglichst vielfältigen Tierbeteiligung auf den Zeitraum von 1950 - als in der experimentellen Avantgardemusik und mit der Entwicklung neuer Aufnahmetechniken eine Vielzahl neuartiger Werke auch mit Tieren entstand - bis zur Gegenwart. Sie stellt einen Materialkorpus dar, welcher der Gesamtkonzeption der Arbeit zugrunde liegt und aus dem eine Reihe von Werken zur detaillierten Besprechung ausgewählt wurde.
Mit der Analyse einzelner Werke wird deutlich, dass sich viele der Arbeiten gerade in Grenzbereichen bewegen und die Grenze und Kategorisierung selbst zum Thema machen. Dies betrifft zum einen die innermusikalischen Genre-Grenzen sowie die zwischen den Kunstgattungen, aber auch die elementare Grenzziehung zwischen Musik und Nicht-Musik. Über die Einbeziehung von Tierlauten in von Menschen produzierte Klangumgebungen und durch die Einbeziehung von Tieren als Klangerzeuger und Entscheidungsträger in kompositorische Prozesse rückt aber noch eine andere Grenzziehung in den Blick, nämlich jene zwischen Menschen und Tieren. Es stellt sich dann die Frage, ob diese Grenze anhand der Fähigkeit, ästhetisch zu handeln und damit Musik - und womöglich auch Kunst - hervorzubringen, (neu) gezogen werden kann.
Als in den 1950er und 60er Jahren in der Avantgarde-Musik jenseits traditioneller Harmonie- und Formkonzeptionen nach neuen strukturellen und performativen Möglichkeiten gesucht und die Frage »Was ist Musik?« aus verschiedenen Gründen auch theoretisch thematisiert wurde, war die Arbeit mit Tieren und Tierklängen vor allem ein Beitrag zur Neubewertung ebendieser Frage. Allerdings ging es dabei um die Musik der Menschen, konkreter: um europäisch geprägte Avantgarde-Musik. Es wurde erprobt, inwiefern auch Tierlaute als kompositorisches Material genutzt werden können oder wie man mit Tieren Kompositionsprozesse erweitern kann. Gerade einige dieser Aufführungen mit Tieren, wie La Monte Youngs Composition 1960 #5, bei der die nicht hörbaren Bewegungsgeräusche eines Schmetterlings im Zentrum stehen, stellten allerdings die gängige Auffassung von Musik derart in Frage, dass ihre Berechtigung als Musik explizit thematisiert wurde.
Auffallend viele Arbeiten mit lebenden Tieren, aber auch solche mit Tierkörpern oder Tiertötungen finden sich im Umfeld der Fluxusbewegung, die in der Kunst die anti-institutionellen Impulse der 1968er-Umbrüche widerspiegelt. Tiere waren hier ein Mittel zur Provokation, die sich einerseits gezielt gegen den etablierten Musikbetrieb richtete, andererseits aber auch gegenüber allgemeineren gesellschaftskritischen Themen öffnete. Dazu gehörte die in den 1970er Jahren in die öffentliche Diskussion geratene Umweltkrise. Eine veränderte Wahrnehmung der Umwelt zeigte sich einerseits in Soundscape-Konzeptionen, die Tierlaute als Teil des Umweltklangs, aber auch als Indikator für den ökologischen Zustand eines Habitats erfassten. Andererseits rückten mit der Popularisierung von Walgesängen die individuellen künstlerischen Fähigkeiten von Tieren erstmals in den Vordergrund. Zunächst galten sie als ein Merkmal, das die Schutzwürdigkeit dieser Tiere, ihres Lebensraums und der Umwelt insgesamt begründete. Diese individualisierte Wahrnehmung von Tieren und Tierlauten ist aber auch eine wesentliche Voraussetzung für die Verschiebungen, die sich etwa seit der Jahrtausendwende beobachten lassen.
Wenn in jüngeren Werken mit Tieren und Tierlauten gearbeitet und die Frage gestellt wird, »Is birdsong music?«, so geht es nicht mehr nur um menschliche Musik. Längst herrscht Konsens darüber, dass man mit Klängen jeder Art komponieren kann. Aktuell steht vielmehr zur Diskussion, inwiefern jene Laute und Gesänge, die Tiere für sich, in ihrem Lebensraum erzeugen, Musik sind - sei es eine der menschlichen vergleichbare oder eine ganz eigene, jeweils artspezifische Musik.
Zwischen diesen Polen bewegt sich die vorliegende Arbeit: zwischen 1952 und 2017, zwischen Ereignissen mit lebenden Tieren und der Komposition mit Tonaufnahmen und Transkriptionen von Tierlauten, zwischen den nicht-hörbaren Klängen eines Admiralfalters und dem Zwitschern von Zebrafinken, zwischen dem zufälligen Eingreifen von und der gezielten Zusammenarbeit mit Tieren, Tieren auf der Bühne und in der Natur, zwischen Performance und Partitur, zwischen Musik als zufälligem Zusammentreffen von Ereignissen, als strukturiertem Klangmuster oder als Produkt universeller Fähigkeiten vieler Lebewesen, zwischen der wissenschaftlichen Untersuchung von Tier(laut)en und der künstlerischen, musikpraktischen Auseinandersetzung damit. Ausführliche Informationen finden Sie unter www.editionargus.de.weiterlesen