Von der Nachkriegsordnung bis zur E-Justice
75 Jahre Rechtsanwaltskammer Tübingen
Produktform: Buch / Einband - fest (Hardcover)
VORWORT
von Albrecht Luther
Erst mit der am 1.10.1879 in Kraft getretenen Rechtsanwaltsordnung (RAO) wurde im damaligen Deutschen Reich ein einheitliches Anwaltsrecht kodifiziert, das die Freiheit der Advokatur gesetzlich gewährleistete. Jeder, der die Fähigkeit zum Richteramt erlangt hat, muss in dem betreffenden Bundesstaat als Anwalt zugelassen werden. Zugleich wurde damit auch der Grundstein für die anwaltliche Selbstverwaltung gelegt, da alle innerhalb des Bezirks eines Oberlandesgerichts zugelassenen Rechtsanwälte eine eigene Anwaltskammer bilden, einen eigenen Vorstand wählen und damit der Aufsicht durch diese Anwaltskammer unterliegen.
Warum die Rechtsanwaltskammer Tübingen hingegen erst seit 11. Dezember 1946 besteht, hat der Journalist und Kulturwissenschaftler Hans-Joachim Lang in seinem Beitrag „Die Anfänge der Rechtsanwaltskammer Tübingen“ herausgearbeitet. Er schildert darin die außergewöhnlichen politischen Umstände im Nachkriegsdeutschland, die zur Gründung der Rechtsanwaltskammer Tübingen geführt haben.
In seinem Aufsatz über die Bedeutung und den Beitrag der Rechtsanwaltschaft und der Rechtsanwaltskammern zur Sicherung der Rechtsstaatlichkeit spannt Winfried Kluth den Bogen von den Anfängen der ersten rechtsstaatlichen Entwicklungen bis hin zu der aktuellen Rolle der in den Rechtsanwaltskammern verfassten Anwaltschaft. Er setzt sich dabei mit einer Vielzahl aktueller höchstrichterlicher Entscheidungen auseinander und beleuchtet den Einfluss europarechtlicher Einflüsse auf das anwaltliche Berufsrecht, das sich zunehmender Angriffe auf die Unabhängigkeit der Anwaltschaft und ihre „core values“, wie dem Verbot des Erfolgshonorars, dem Fremdbesitzverbot und der anwaltlichen Verschwiegenheitsverpflichtung ausgesetzt sieht.
Die Zeit von 1933–1945, in der gleichsam über Nacht der Rechtsstaat und eine freie unabhängige Advokatur abgeschafft waren, spiegelt sich in der abgedruckten bewegenden Ansprache wider, die Christoph Geprägs über das Schicksal der jüdischen Tübinger Rechtsanwaltskollegen anlässlich der Enthüllung einer entsprechenden Gedenktafel gehalten hat.
Auch die von Hans-Joachim Lang vorgenommene historische Aufarbeitung der letzten in Deutschland vor der Teilung vollstreckten Todesstrafe am 18. Februar 1949, also kurz vor Inkrafttreten des Grundgesetzes, gehört in den Kontext der Justizgeschichte in Tübingen auch aus anwaltlicher Sicht. So ergibt sich aus den von Lang gesichteten Protokollen, dass ein Urkundsbeamter der Geschäftsstelle des Landgerichts hinzugezogen wurde für den Fall, dass der Delinquent einen Wiederaufnahmeantrag stellen sollte. Ausweislich des Protokolls ist dies offensichtlich nicht geschehen. So fragt man sich: Wo war an diesem Tag und zu dieser Stunde sein Verteidiger?
Schließlich berichtet Ekkehart Schäfer, ehemaliger langjähriger Präsident der RAK Tübingen und zuletzt Präsident der Bundesrechtsanwaltskammer bis 2018 über einen bis vor dem Bundesverfassungsgericht ausgetragenen Rechtsstreit der RAK Tübingen. Der Rechtsstreit befasste sich mit dem Verbot widerstreitender Interessen im Falle eines Sozietätswechslers.
Markus Schellhorn, amtierender Vizepräsident der RAK Tübingen und mit fast 30 Dienstjahren ältester Vorstand unserer Kammer, hat einen mit teils humoristischen, teils skurrilen Anekdoten unterlegten Streifzug durch die Zeit der Kammer von 1949 an bis heute gefertigt. Als Quellen konnte er sich hierbei nicht nur auf die teils dürftigen Protokolle stützen, sondern auch auf eigene Erfahrungen und die Aussagen früherer Mitglieder des Vorstands, der seit 1949 durchgängig mit Angehörigen seiner Familie besetzt war.
Dem von ihm zitierten Schlusswort ist eigentlich nichts hinzuzufügen. Sowohl für eine freie, unabhängige Anwaltschaft, die verschwiegen und loyal hinter ihren Mandanten steht, als auch für den Rechtsstaat ist die anwaltliche Selbstverwaltung unverzichtbar. Ich hoffe, dass auch spätere Generationen sich dieses Privilegs bewusst sind.
Albrecht Luther
Rechtsanwalt und Präsident
der Rechtsanwaltskammer Tübingenweiterlesen
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