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Warum Regenwürmer Dreirad fahren

Produktform: Buch

Sie sagten ihm, er hätte meistens geschlafen, selbst beim Baden in der Kinderwanne auf dem Küchentisch hätte Heinz gerne ein Nickerchen gemacht. Die Mutter hatte alle seine Geschwister auf diese Weise gebadet, denn nur so konnte sie gleichzeitig alle anderen beaufsichtigen. Wie ihn diese immer wiederkehrende Information bei den samstäglichen Familienzusammenkünften langweilte. Seine beiden älteren Schwestern mochten ihm die fehlende Begeisterung möglicherweise nachgesehen haben, die jüngeren Geschwister jedoch hatten ihre helle Freude daran, sich über eine derartige Schlafmütze schiefzulachen. Seine Mutter hätte stets drauf achten müssen, dass er nicht zu viel Badewasser schluckte, oder gar unbeaufsichtigt im Wännchen lag, hieß es. Andernfalls wäre Heinz im Schlaf vollständig abgetaucht. Wer legt ein Kleinkind auch unbeaufsichtigt ins Badewasser, dachte er sich sehr viel später, und er begriff, auch seine Mutter hatte wohl nur zwei Hände gehabt. Schlafend gelang es ihm denkbar besser, dem Weibergeschnatter zu entfliehen. Schließlich konnte Heinz als Baby noch nicht davonlaufen. Zusammen mit seinem kleinen Bruder, der fünf Jahre später geboren werden sollte, fand Heinz sich vom ersten Schrei an dem weiblichen Geschlecht ausgeliefert. Und schweigend gelang es eben besser, diese harten Zeiten durchzustehen, als die Meinung in der Minderheit laut kreischend kundzutun. Der Vater war damit be-schäftigt, Geld ins Haus zu bringen, fand so stets seine Begründung für dessen Abwesenheit. Leider würde Heinz die Erkenntnis, bisweilen besser den Mund zu halten und sich etwas zurückzunehmen, viele Jahre später wieder neu erlernen müssen. Er würde sich auch nicht mehr unsichtbar machen können, wenn etwas schiefgegangen war, indem er seine Augen mit der flachen Hand verbarg. Er konnte die anderen nicht mehr sehen, sie ihn also ebenfalls nicht, hatte er gedacht. Über den ersten Irrtum seines Lebens hatte ihn nie jemand aufgeklärt. Einen gewissen Status, wie nur er ihn besaß, konnte Heinz erkennen, nachdem er laufen gelernt hatte. Es bot durchaus auch Vorteile, der Mann im Haus zu sein. Viele Geschwister zu haben bedeutete im Vergleich zu kleineren Familien auch umfangreicheren Verpflichtungen im Haushalt nachkommen zu müssen. Er kannte es nicht anders. Essen kochen, Geschirr spülen, Schuhe putzen, Abfall wegbringen, die ganze nichtendenwollende Liste von Hausarbeiten: Hiervon blieb er verschont. Heinz kostete diesen Luxus bald aus. Es mochte der zweite von vielen Irrtümern sein, über die Heinz in seinem Leben stolperte, dass Haushalt allein Frauen vorbehalten sei. Woher hätte er auch wissen sollen, dass die Sonne sich nicht um die Erde drehte, sondern die Erde um die Sonne. Die Entscheidung, ob er den Kindergarten besuchen sollte, stand an. Man beriet sich und beschloss, es sei nicht nötig. Die Horde Kinder zu Hause entsprach vergleichsweise der eines Kindergartens, wenn auch ein wenig dezimiert. Kostengründe trugen zu diesem Beschluss bei, reimte sich Heinz sehr viel später zusammen, denn er hätte mit seiner Schwester die Vorschule besuchen müssen. Es würde sich zeigen, was Heinz zu Hause, und was seine künftigen Mitschüler im Kindergarten lernten. Es war Leo, dem Heinz seine Geheimnisse anvertraute. Auf Leo konnte er zählen, denn Leo behielt ihm Anvertrautes für sich und verwendete Informationen nicht gegen ihn. Irgendwann legte Heinz ihm ein Halsband an. Der schmale Kunstlederstreifen zierte dessen Hals, da Leo ein recht zerrupftes Fell hatte. Der Bauch hatte sogar schon medizinisch versorgt und genäht werden müssen, denn das Stroh hatte herausgeschaut. Leo konnte quietschende Geräusche machen, drückte man ihm auf den Bauch. Später erkannte Heinz, dass es ein Bär war und kein Löwe, denn Bären gaben seines Wissens andere Laute von sich. Jede Nacht legte er Leo, seinen Stoffbären, an seine Brust und schlief mit ihm ein. Tagsüber bekam er einen geschützten Platz in der Ecke des Bettes. Bei drei Geschwistern im gleichen Zimmer konnte Heinz nie vorhersehen, was den anderen einfallen würde, um ihn oder Leo zu ärgern. Waren die Revierkämpfe der vier jüngeren Geschwister, seine beiden älteren Schwestern hatten schon ihr eigenes gemeinsames Zimmer, wie fast immer zu Heinz´ Ungunsten ausgegangen, blieb nur Leo als sein Verbündeter. Was Heinz nicht verstand, war sein Groll, wenn er ihn an Leo ausließ, war er schlecht gelaunt und konnte sich nicht anders beruhigen. All seinen Verdruss bekam Leo zu spüren, obwohl der nicht schuld sein konnte, so viel war klar. Mit dieser Erfahrung kam Heinz nicht zurecht. Er fühlte sich zutiefst unwohl, und es tat ihm hinterher sehr leid. Doch Heinz stand am Anfang von Erkenntnissen, die ihn künftig gewaltig durch-schütteln würden. Nun galt es zu verarbeiten, seinen Exklusivstatus als Mann im Haus relativieren zu müssen, auch, wenn er das alles noch nicht einmal ansatzweise begreifen konnte. Eines Winters zu Weihnachten schien sich das Blatt zu wenden. Wie hatte er sich insgeheim an den Osterfeiertagen immer geärgert, sein Osternest am besten versteckt zu wissen, während die Ge-schwister bereits fleißig Süßigkeiten aus ihren Nestern futterten! Wieso nur traf es immer ihn, hatte er in diesem Jahr gewütet, und die Suche ergebnislos aufgeben wollen. Hätte die ganze Aktion nicht vor dem Mittagessen, sondern abends stattgefunden, wäre Leo wieder der Leidtragende gewesen. Heinz wollte und konnte sich nicht mit der härteren Gangart anfreunden, die an ihn angelegt wurde. Er wollte einfach nur behandelt werden, wie seine Geschwister. Weihnachten gab es wäschekörbeweise Geschenke für alle. Im größeren der beiden Kinderzimmer wurde jedes Jahr der Baum aufgestellt und die Geschenke vom Christkind gebracht. Meist gab es mehr oder minder Nützliches, jedes Kind erhielt aber auch ein besonderes Geschenk. Es war der Führerschein, über den er sich so freute. Zwar bestand der nur aus einem Stück Papier mit Buchstaben und Zahlen, aber etwas derart Wertvolles brachte das Christkind heuer nur ihm, wie es aussah. Ein wenig unschlüssig über die weitere Verwendung kundschaftete er noch einmal die Geschenke der anderen aus, um sicherzugehen, diesmal auch wirklich nicht wieder den Kürzeren gezogen zu haben, wie zu Ostern. Das emsige Treiben am Weihnachtsbaum unterbrach ein Klopfen. Sein Vater stand gerade mit dem Rücken direkt vor der Kinderzimmertür. Der drehte sich gleich um, öffnete die Tür und sagte etwas zu jemand im Gang, von dem Heinz aber nichts hören oder gar sehen konnte. Heinz sollte auch kurz an die Türe kommen, bedeutete ihm der Vater, und dann erblickte er es: ein Auto! Der vermeintliche Lieferant war verschwunden. Das Christkind hatte ihm ein Auto gebracht! Es stand im Flur vor dem Kinderzimmer, wartete auf seinen neuen Besitzer und brachte ihm seinen Status als Mann im Hause wieder zurück. Der Vater war kein Risiko eingegangen, als Klopfer enttarnt zu werden, denn Heinz´ Sinne galten nur mehr dem Gefährt. Seine Augen glänzten, er war übermannt von der Freude über sein Geschenk des Himmels. In den Wintermonaten durfte Heinz nur im Flur und im Treppenhaus mit seinem Kettcar fahren, obwohl er schon den Führerschein besaß. Er hatte Schneeketten aus Kettchen der alten Waschbeckenstöpsel von Vaters Werkstatt vorbereitet, die er um die Vollgummireifen schnüren würde, musste sich aber noch gedulden. Für den Anfang ging es auch ohne, denn er besaß nun etwas, das seine Geschwister nicht vorweisen und ihm auch nicht streitig machen konnten. Er ahnte nicht, dass er sich fast ein Vierteljahrhundert später wieder an seinen Kettcar erinnern würde, wenn er den wichtigsten Menschen träfe, dessen Weg er jemals im Leben kreuzen würde. Wenn der ihm seine Geschichte erzählte. Heinz würde von dessen fahrbarem Untersatz erfahren, und von den Kriechtieren, die der damit befördert hätte. Erheitert würde Heinz sich erkundigen, weshalb er die Krabbler derartigen Torturen ausgesetzt hätte, und dann erfahren, dass den Tierchen doch auch die Aussicht auf so Vieles gegönnt sein sollte, das sie sonst niemals sehen würden. Heinz war zuversichtlich, mit seinem Kettcar nun eine viel bessere Aussicht zu genießen. Die Zeit der Geheimniskrämerei zermürbte Heinz, denn er selbst hatte wenig spektakuläre Geheimnisse, wie sie die Geschwister austauschten. Sein einziger Bruder war eher still im Vergleich zu den Schwestern, und auch ihn schlossen sie meist aus ihren Flüstereien aus. Außerdem war sein Bruder noch zu klein, um sich wirkungsvoll mit ihm zu verbünden. Irgendwie waren die Mädchen anders gepolt, beschwichtigte sich Heinz, obwohl die Neugier an ihm nagte. Besonders die beiden älteren Schwestern achteten drauf, ihre Mädchenzimmertür nicht für spionierende Blicke offen stehen zu lassen. Überdies hatten sie nach der Schule neuerdings immer wieder irgendwelche Sachen außer Haus zu tun. Das begriff er nun gar nicht mehr. Bald würde er in die dritte Klasse kommen, vielleicht bekam er dann auch Wichtiges außerhalb des Elternhauses zu erledigen, hoffte er. weiterlesen

Sprache(n): Deutsch

ISBN: 978-3-942427-71-5 / 978-3942427715 / 9783942427715

Verlag: BEST-Off-Verlag

Erscheinungsdatum: 29.08.2013

Seiten: 252

Autor(en): Johannes Ralph

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