Gerechtigkeit und ihr Verhältnis zum Guten – das ist das
Thema dieser Untersuchung. Allgemeine Gerechtigkeit
und Verteilungsgerechtigkeit werden in einem Zuge bearbeitet.
Der Schwerpunkt liegt dabei auf deliberativen Theorien
der Gerechtigkeit. Diese fassen die Gültigkeit von
Gerechtigkeitsaussagen als instituiert durch Prozesse des
Überlegens auf – Prozesse des Überlegens, die in der richtigen
Weise mit den Überlegungen derjenigen, für die sie
Orientierung sollen bieten können, verbunden sind. Diese
allgemeine Charakterisierung der Grundidee deliberativer
Gerechtigkeit zu einer Theorie auszubuchstabieren, erfordert
eine Vielzahl von speziellen Bestimmungen bezüglich
dessen, was Gerechtigkeitsaussagen sind, wie und wen sie
orientieren können sollen, sowie: was Überlegungen sind
und wie sie beschaffen sein müssen, um zu gültigen Aussagen
zu kommen.
In der Gegenwartsliteratur werden die entsprechenden
Festlegungen unterschiedlich vorgenommen. Wichtige
Autoren deliberativer Theorien sind John Rawls, Thomas
Scanlon und Jürgen Habermas. Strittig ist nicht nur, wie
Deliberationen in Bezug auf das Gerechte zu fassen sind
– monologisch oder dialogisch –, sondern auch, wie solche
Deliberationen in Bezug auf das Gute, in Abgrenzung
zum Gerechten, zu bestimmen sind und wie diese in das
Gerechte eingehen sollen.
Die Autorin setzt sich mit drei Modellen einer solchen
Einbeziehung auseinander: (1) mit dem Komplementaritätsmodell,
in welchem das Gute das Gerechte inhaltlich
spezifiziert sind (Rawls); (2) mit dem Integrationsmodell,
in welchem diejenigen Aspekte des guten Lebens in die
Gerechtigkeit integriert werden, die allgemein begründbar
sind (Habermas); und (3) mit dem offenen Komplementaritätsmodell,
welches das Verhältnis als komplementär,
aber offen sieht (Scanlon): Das gute Leben kann nicht für
die Zwecke der inhaltlichen Bestimmung von Gerechtigkeit
einheitlich konzipiert werden; eine einheitliche und
vollständige Theorie des Guten ist weder möglich noch
nötig.
Alle drei Modelle sehen vor, das Gute nicht deliberativ
auszulegen. Die Explizierung der Begriffe der Deliberation
sowie des Guten und seiner Verschränkung mit
dem Gerechten beinhaltet in allen Modellen bestimmte
theoretische Festsetzungen, die aus Rekonstruktionen
dessen gewonnen werden, wie Personen überlegen, wenn
sie Gerechtigkeitsüberlegungen anstellen, und wie sie
überlegen, wenn sie überlegen, wie gut zu leben sei. Diese
Festsetzungen aber sind nicht deliberativ angeschlossen,
sie sind nicht gegenüber oder mit denjenigen, für die die
Theorie Orientierung bieten können soll, begründet.
Eine konsequent deliberative Theorie ist aber, so Nadia
Mazouz, erst mit einer deliberativen Theorie der Gerechtigkeit
und des Guten erreicht. Eine halbierte deliberative
Theorie, wie sie von den meisten Autoren vertreten wird,
ist mit charakteristischen Setzungen behaftet, die den deliberativen
Kern gefährden. Daher schlägt Mazouz vor, den
Bezug des Gerechten zum Guten in einem vierten Modell,
dem Perspektivenmodell zu beschreiben. In diesem sind
das Gerechte und das Gute Perspektiven auf das zu Beurteilende,
wobei typischerweise Handlungen oder Institutionen
beurteilt werden: Gerechtigkeit und das gute Leben
sind nicht Bereiche mit unterschiedlichen Gegenständen,
sie sind Weisen, Überlegungen zu beurteilen: als Überlegungen,
in denen die Überlegungen anderer eine bestimmte
Rolle spielen oder auch nicht, es sind Perspektiven, aus
denen heraus Überlegungen beurteilt werden.weiterlesen