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Wir hofften auf bessere Zeiten

Produktform: E-Buch Text Elektronisches Buch in proprietärem

Kapitel 1 Detroit, Juli Im Lafayette Coney Island war es am späten Vormittag ausgesprochen ungemütlich. Wahrscheinlich war es hier auch sonst niemals gemütlich. Das traditionsreiche Fast-Food-Restaurant war klein, schmuddelig und überfüllt. Einen Stuhl freizuhalten, wie ich es in der Stoßzeit versuchte, wurde nicht gern gesehen. Ich war dankbar, als um Punkt zwölf Uhr, wie verabredet, ein älterer schwarzer Mann in einem ausgebeulten Trikot der Detroit Lions durch die Tür schlurfte. Über seiner hängenden Schulter trug er eine fleckige Ledertasche. »Mr Rich?«, überschrie ich den hohen Geräuschpegel. Er rutschte auf den freien Stuhl mir gegenüber. Um diesen Stuhl hatte ich schwer gekämpft. Hoffentlich würde ich für diese Mühe belohnt. »Woher wussten Sie, dass ich es bin?«, fragte er. »Sie hatten gesagt, dass Sie ein Lions-Trikot tragen würden.« »Ach ja. Das hatte ich, nicht wahr? Mein Sohn hat es mir geschenkt.« »Können wir bestellen? Ich habe nur zwanzig Minuten Zeit.« Mr Rich drehte den Kopf zur Tür. »Ich hatte gehofft, dass … Ah, da ist er ja!« Die Tür ging auf und ein großer, athletisch gebauter Mann im eleganten Anzug und mit kurzen, schwarzen Dreadlocks trat ein. Er kam mir vage bekannt vor. »Denny! Wir wollen gerade bestellen.« Mr Rich legte die Ledertasche auf seinen Schoß und rutschte auf seinem Stuhl zur Seite, um dem Neuankömmling Platz zu machen. Der Mann setzte sich auf die zwanzig Zentimeter Stuhl, die Mr Rich ihm freigeräumt hatte, ragte aber größtenteils in den ohnehin schon engen Gang. »Das ist mein Sohn Linden.« Jetzt fiel bei mir der Groschen. Mein Blick flog zu den vielen Fotos von berühmten Persönlichkeiten hinüber, die im Laufe der Jahre hier gegessen hatten. Dort an der Wand hing er. Zwischen Eminem und Drew Barrymore thronte er über den lächelnden Mitarbeitern. Ich richtete mich ein wenig höher auf. »Der Linden Rich, der für die Lions spielt?« »Ja«, antwortete er. »Und Sie sind …?« »Das ist Elizabeth Balsam«, antwortete Mr Rich an meiner Stelle, »die Journalistin, die die Skandalgeschichten in der Free Press über Korruption und Land Grabbing und die zehntausend – oder waren es elftausend? – nicht ausgewerteten Vergewaltigungsindizien, die vor einer Weile gefunden wurden, geschrieben hat. Sie hat auch über den Kilpatrick-Prozess berichtet.« Ich setzte das dezente Lächeln auf, das ich seit meinem Studium jeden Morgen vor dem Spiegel einübe, weil ich hoffe, dass es mich gleichermaßen aufgeschlossen wie intelligent erscheinen lässt. »Ach ja. Okay.« Linden nickte. »Ich sehe die Ähnlichkeit. In den Augen.« »Das habe ich dir doch gesagt«, erwiderte Mr Rich. »Ja, das hast du.« »Entschuldigung«, mischte ich mich ein, »welche Ähnlichkeit?« In diesem Moment kam ein Kellner in einem schmutzigen weißen T-Shirt, der zehn Teller auf einem Arm balancierte, an unseren Tisch und rief überschwänglich: »Hallo, Denny! Was darf ich euch bringen?« Wir bestellten unsere Coney Dogs – für mich ganz klassisch mit Soße und Zwiebeln, für Linden mit allem, was sie in der Küche hatten, und für Mr Rich nur mit Soße. Er erklärte: »Ich vertrage keine Zwiebeln mehr.« »Und ich brauche Besteck«, ergänzte ich mit Nachdruck. Während der Kellner dem alten Mann am Grill unsere Hotdog-Bestellung zurief, wandte sich Linden an seinen Vater: »Du gibst ihr diese Kamera nicht.« »Du hast nur von den Fotos gesprochen. Du hast gesagt, dass ich die Fotos vorerst behalten soll«, sagte Mr Rich. »Warum soll ich ihr die Kamera nicht geben? Sie gehört dir nicht, Denny.« »Ihr gehört sie auch nicht.« »Nein, aber sie kann sie Nora geben.« Linden atmete tief ein und blickte beiseite. Jedem anderen wäre es wahrscheinlich peinlich gewesen, wenn in seinem Beisein über ihn gesprochen wurde, als wäre er nicht da, aber in mir hatten die Jahre im unbarmherzigen Journalismusgeschäft diese absolut natürliche Reaktion fast abgetötet. Ungebeten schaltete ich mich in das Gespräch ein und begann, meine Fragen zu stellen. »Am Telefon sagten Sie, man habe Ihnen ein paar Dinge ausgehändigt, die in der Asservatenkammer der Polizei gefunden wurden. Dinge, die einer Verwandten von Ihnen gehören?« »Nein, sie gehören einer Verwandten von Ihnen. Ich erzähle Ihnen die Geschichte am besten der Reihe nach.« Ich widerstand dem Drang, mein Handy herauszuholen, um seine Worte aufzuzeichnen. Doch bevor Mr Rich seine Geschichte erzählen konnte, wurden unsere Coney Dogs bereits in keiner erkennbaren Ordnung auf den Tisch geknallt. Wir schoben die Teller hin und her, bis jeder seinen Hotdog hatte. Die beiden Männer mir gegenüber nahmen ihren in die Hand und bissen hinein. Ich begann, meinen mit Messer und Gabel zu schneiden, wofür ich von Linden einen »Das soll wohl ein Witz sein!«-Blick erntete. »Ich lese die Free Press seit Jahren«, begann Mr Rich. »Dabei ist mir immer wieder Ihr Name untergekommen. Ich weiß nicht, ob mir aufgefallen wäre, dass all diese Artikel von derselben Journalistin stammen, wenn ich Ihren Familiennamen nicht so gut kennen würde.« Ich nickte, um ihm zu verstehen zu geben, dass ich ihm folgen konnte. »Und ich habe mir überlegt: Vielleicht ist diese Elizabeth Balsam mit der Balsam verwandt, die ich kenne. Diesen Namen hört man in Detroit nicht oft. Ich weiß nicht, ob ich ihn außer in Verbindung mit Nora Balsam überhaupt schon einmal gehört habe. Sagt Ihnen ihr Name etwas?« Ich spießte ein Stück Wurst auf und tunkte es in die Soße. »Nein, tut mir leid. Ich glaube nicht, dass ich jemanden mit diesem Namen kenne.« Linden hob die Hand, um seinem Vater zu signalisieren: »Das habe ich dir doch gleich gesagt!« »Nicht so vorschnell«, erwiderte der alte Mann an seinen Sohn gewandt. »Du hast selbst gesagt, dass sie genauso aussieht wie sie.« »Ich gebe zu, dass Sie wie sie aussehen«, gestand Linden ein. »Aber – nehmen Sie es mir bitte nicht übel – irgendwie seht ihr alle gleich aus.« Ich lachte. Als Weiße in einer Stadt, in der über 80 Prozent schwarz sind, war ich es gewohnt, gelegentlich daran erinnert zu werden, wie sich Minderheiten in den meisten Teilen dieses Landes fühlten. Das störte mich nicht. Im Gegenteil, es machte mir bewusst, dass die Leserschaft, für die ich schrieb, nicht nur aus Leuten wie mir bestand. »Ich würde nicht sagen, dass Sie ihr wie aus dem Gesicht geschnitten sind«, schob Mr Rich nach, »aber in der Augenpartie sehe ich eine deutliche Ähnlichkeit. Wenn Sie blonde Haare und vielleicht ein anderes Kinn hätten, würde es genau passen.« Ich trank einen Schluck Wasser. »Ich weiß immer noch nicht, von wem Sie sprechen. Oder worum es überhaupt geht.« Mr Rich schloss kurz die Augen und schüttelte den Kopf. »Ja, wir sollten der Reihe nach erzählen. Sie wissen besser als jeder andere, dass vieles in dieser Stadt im Argen liegt. Es gibt zu viele Probleme, um sie alle bewältigen zu können. Ich habe etwas gesucht, das sehr lange verloren war. Ich wusste, dass die Polizei es haben musste, aber versuchen Sie mal, in einer Organisation, die in fünf Jahren fünf Polizeichefs hatte, jemanden ans Telefon zu bekommen, der sich auskennt. Und dann haben sie viel wichtigere Dinge zu tun, als irgendeine alte Tasche zu suchen, die in einem Regal verstaubt.« Er hielt inne und lächelte breit. »Aber ich habe sie endlich gefunden. Vor zwei Jahren habe ich einen Anruf bekommen und dann haben sie sie mir zurückgegeben. Und noch ein paar andere Sachen, mit denen ich gar nicht gerechnet hatte.« Er tippte auf die Tasche auf seinem Schoß, die erstaunlich sauber war und keinen einzigen Tropfen Hotdog-Soße aufwies. »Diese Kamera gehört Nora Balsam. Außerdem habe ich eine ganze Schachtel voll Fotos für sie.« Ich merkte, dass ich die Augen zusammenkniff, während ich versuchte, die einzelnen Puzzleteile zusammenzufügen und zu kapieren, was das alles mit mir zu tun hatte. Hastig zwang ich mich, meine Gesichtsmuskeln zu entspannen und eine mitfühlende Miene aufzusetzen. »Und Sie glauben, ich wäre mit ihr verwandt und könnte ihr die Sachen deshalb geben?« »Das war meine Hoffnung.« Ich wischte meine bereits sauberen Hände an meiner Serviette ab. »Es tut mir leid, Mr Rich, aber ich fürchte, Sie müssen woanders suchen. Ich habe diesen Namen noch nie gehört.« Der alte Mann wirkte enttäuscht, aber ich war erleichtert. Immerhin hatte ich größere Fische an der Angel und mein Abgabetermin rückte immer näher. Ich hatte keine Zeit, um irgendjemandem alte Fotos zu überbringen. Ich warf einen Blick auf mein Handy. Ich hatte nicht einmal Zeit, um fertig zu essen. »Es tut mir wirklich sehr leid, dass ich Ihnen nicht weiterhelfen kann. Und jetzt muss ich leider los.« Ich wollte einige Geldscheine aus meinem Portemonnaie holen, doch Linden hob die Hand. »Das Essen geht auf mich.« »Danke.« Ich trank mein Wasserglas leer, zog den Riemen meiner Handtasche über meine Schulter und schob meinen Stuhl fünf Zentimeter zurück. Mehr Platz war nicht. »Nur so aus Neugier: Warum lagen diese Sachen bei der Polizei? Was ist auf den Fotos zu sehen?« Linden schaute seinen Vater an, der den Blick auf seinen Teller senkte, als stünde die Antwort auf meine Frage in der verschmierten Soße. »Sie wurden 1967 bei den Rassenunruhen aufgenommen.« Mein Herzschlag erhöhte sich sofort. Ich rutschte wieder an den Tisch heran und beugte mich vor. »Haben Sie die Fotos dabei?« »Denny hat gesagt, dass ich sie lieber nicht mitbringen soll.« »Warum nicht?« »Genau aus diesem Grund«, sagte Linden. »Weil Sie kein Interesse an all dem hatten, bis Sie wussten, was auf den Fotos zu sehen ist. Ich wusste, dass es so laufen würde.« Er wandte sich an seinen Vater. »Habe ich es dir nicht gesagt? Habe ich dir nicht gesagt, dass sie nur die Fotos in die Finger bekommen wollen wird?« Ich lehnte mich zurück und versuchte, cool auszusehen. Dieses umgängliche, aber doch intelligente Lächeln aufzusetzen. »Natürlich interessieren mich die Bilder. Ich setze mich seit Jahren dafür ein, Korruption und Misswirtschaft in dieser Stadt anzuprangern. Wenn Fotos von historischer Bedeutung auf einer Polizeiwache vergammeln, ist das nur ein weiteres Symptom des größeren Problems. Ich arbeite seit Wochen an einer großen Story, die im Zusammenhang mit den Rassenunruhen steht. Diese Fotos wurden nie veröffentlicht, nehme ich an. Ich bin mir sicher, dass die Free Press für das Recht, diese Bilder der Welt zeigen zu dürfen, einen guten Preis bezahlen wird. Immerhin waren das so ziemlich die größten Unruhen, die wir hier in den USA je hatten.« Linden deutete mit dem Zeigefinger auf mich. »Da! Da hast du es! Genau, wie ich gesagt habe.« Mr Rich legte eine Hand auf den Unterarm seines Sohnes. »Ist ja gut. Beruhige dich und lass mich bitte auch mal etwas sagen.« Linden senkte seinen anklagenden Finger und lehnte sich auf seiner Stuhlhälfte zurück. Sein Millionen-Dollar-Bein war neben meinem Stuhl ausgestreckt und zwang mich, sitzen zu bleiben, obwohl er es unübersehbar nicht erwarten konnte, mich loszuwerden. Sein Vater schaute mich mit müden Augen an. »Miss Balsam, ich trage eine schwere Last mit mir herum. Seit fünfzig Jahren belastet mich etwas, das ich loswerden möchte. Diese Kamera und diese Fotos muss Nora bekommen. Nicht eine Zeitung, nicht ein Museum, nicht eine Bibliothek. Sondern Nora. Ich kann sie ihr leider nicht geben. Aber Sie könnten sie ihr bringen. Wären Sie bereit, sich einfach zu erkundigen? Ein wenig nachzuforschen, ob Sie tatsächlich mit ihr verwandt sind, so wie wir es vermuten? Und falls Sie mit ihr verwandt sind, wären Sie dann bereit, Kontakt zu ihr aufzunehmen? Sie sozusagen langsam auf das vorzubereiten, was da auf sie zukommt? Diese Fotos werden viele schmerzliche Erinnerungen in der alten Frau wecken. Aber ich weiß in meinem Herzen – der Herr hat es mir auf die Seele gelegt –, dass ich sie ihr geben muss.« Eine der wichtigsten Lektionen, die ich in meinen ersten Jahren als Journalistin gelernt hatte, war es, mich nicht emotional auf eine Story einzulassen. Als Journalistin muss man über zu viel Schmerzliches und Leidvolles schreiben. Wenn ich zuließe, dass ich mit dem Jungen leide, der gemobbt wird, oder mit dem Mann, der sein Geschäft verloren hat, oder mit der Frau, deren Tochter entführt wurde, obwohl ich an der Situation nichts ändern kann – außer eine Stimme zu sein, die den Betroffenen Gehör verschafft –, wäre die Last, die ich jeden Abend mit nach Hause nehmen würde, einfach zu groß. Deshalb hatte ich eine Mauer um mein Herz herum errichtet, hinter der ich mich bei meiner Arbeit grundsätzlich verschanzte. Aber in den Augen dieses Mannes, in den gekrümmten Falten auf beiden Seiten seines Mundes, die die Vermutung nahelegten, dass es in seinem Leben genauso viel gegeben hatte, über das er sich geärgert, wie Dinge, über die er gelächelt hatte, lag etwas, das diese Mauer bröckeln ließ. Ich tippte mit dem Finger auf den Tisch. »Warum haben Sie die Fotos, wenn Nora die Bilder aufgenommen hat?« »Sie hat die Bilder nicht aufgenommen. Mein Onkel hat die Bilder gemacht. Aber er ist nicht mehr da. Sie gehören jetzt ihr.« »Warum?« »Sie ist seine Frau.« Eine Mischehe in den 1960er-Jahren? Die Sache wurde immer interessanter. Vielleicht könnte ich diese Geschichte in meine groß angelegte Artikelserie über die Unruhen und die damalige Zeit einbauen. Sie bot einen großartigen menschlichen Ansatz, einen größeren kulturgeschichtlichen Bezug, eine Verbindung zu einem prominenten NFL-Spieler. Falls ich tatsächlich mit dieser Nora verwandt war, könnte ich das Ganze sogar als persönliche Familiengeschichte aufziehen. Die Frage war: Hatte ich dafür Zeit? Bisher war es mir immer noch nicht gelungen, den Schutzschild um Richter Sharpe zu knacken, den ich in meiner investigativen Serie überführen wollte, und mir lief allmählich die Zeit davon. »Okay, angenommen, ich bin mit ihr verwandt. Ich kenne diese Frau trotzdem nicht und sie kennt mich nicht. Warum sollte sie mir auch nur zuhören?« »Miss Balsam, glauben Sie an Gott?« Diese Frage überrumpelte mich. »Ja.« »Glauben Sie, dass er aus allem, was geschieht, etwas zu seiner Ehre machen kann?« Meine Eltern glaubten das. Meine Schwester glaubte das auch. Ich hatte es früher auch geglaubt. Bis ich gesehen hatte, wie chaotisch und kaputt und außer Kontrolle die Welt war. Wenn der Journalismus mich etwas gelehrt hatte, dann die Erkenntnis, dass wir uns alle nur durch ein Minenfeld aus Gefahren und Raubtieren und dummen Zufällen hangeln und stolpern. Aber es war nicht zu übersehen, dass Mr Rich glaubte, Gott hätte ihm eine Aufgabe übertragen – er sollte diese Sachen zurückgeben –, und dass er keinen Frieden finden würde, solange er diese Aufgabe nicht erfüllt hatte. Statt seine Frage zu beantworten, stellte ich eine Gegenfrage. »Warum schicken Sie ihr die Sachen nicht einfach mit der Post?« Ich wartete auf eine logische Begründung, warum das nicht möglich war, aber er nannte mir keine. »Würden Sie sich einfach erkundigen, ob Sie mit Nora verwandt sind?«, fragte er. Der flehentliche Ausdruck in seinen braunen Augen löste noch mehr Steine aus meiner ohnehin schon bröckelnden Schutz- mauer. »Also gut. Ich erkundige mich«, antwortete ich. Mr Rich nickte und schob eine Visitenkarte über den Tisch. Ich mied Lindens kritischen Blick, als ich die Karte einsteckte und mich aus meinem Stuhl zwängte. »Es war schön, Sie kennenzulernen«, sagte ich. »Danke für das Essen.« Ich trat in den windigen, sonnigen Nachmittag hinaus, gab dem Obdachlosen, der vor der Tür murmelnd auf und ab ging, einen Dollar und eilte die Straße hinab zu dem alten Notenbankgebäude, in dem seit 2014 die immer kleiner werdende Belegschaft der Free Press untergebracht war und in dem mich ein Berg Arbeit erwartete. Zurück am Schreibtisch versuchte ich, mich auf die endlose Liste von E-Mails in meinem Posteingang zu konzentrieren, die als dringend markiert waren. Eine Mail stammte von meinem Chefredakteur – In mein Büro, sofort –, aber mein Gehirn war bereits vollends damit beschäftigt, sämtliche Richtungen auszuloten, die diese neue Story einschlagen könnte. Das war im Moment sehr ungünstig, da ich mein Augenmerk eigentlich voll und ganz auf meine aktuelle Recherchearbeit legen musste. Ich spionierte Richter Sharpe seit Monaten durch meinen Kontakt zu seinem vertrauensseligen und ahnungslosen Sohn, Vic, aus und hatte endlich das Gefühl, dass ein Durchbruch kurz bevorstand. Vic hatte mir gestern Abend eine Nachricht geschickt, in der er mich zum Kaffee einlud. Er hatte, wie er es formulierte, »etwas Großes herausgefunden, das dich bestimmt interessieren wird«. Ich musste diese Fotos also dringend aus dem Kopf bekommen. Und das würde mir am besten gelingen, wenn ich schon mal nachzuforschen begann und den Ball ins Rollen brachte. So unauffällig wie möglich verdrückte ich mich ins Treppenhaus und rief auf meinem Smartphone die Seite Ancestry.com auf. Einige Minuten und dreißig Dollar später klickte ich kleine grüne Blätter an, die mir auf dem Display entgegenwinkten. Ich fand meine Eltern und begann, den Familienzweig meines Vaters im Familienstammbaum zurückzuverfolgen. Großvater Richard, Großonkel Warner … Bingo! Da war sie: eine Großtante, deren Geburtsname Eleanor Balsam lautete. Rasch schrieb ich meiner Schwester in L.A. eine Nachricht. Hey, lange nichts gehört. Familienfrage: Hast du Mama oder Papa je von einer Großtante Eleanor oder Nora sprechen hören? Antworte mir bitte bald. Danke. Ich wartete einen Moment auf eine Antwort. Wahrscheinlich war sie gerade bei einem Patienten. Es war auch möglich, dass sie keine Ahnung hatte, wer ihr da schrieb, denn wir hatten seit mindestens zwei Jahren nicht mehr miteinander gesprochen. Ich ging zu meinem Schreibtisch zurück, öffnete meinen Text über einen schwarzen Polizisten, der während der 1967er-Unruhen Dienst gehabt hatte, und las ihn mir noch ein letztes Mal durch, bevor ich ihn meinem Redakteur mailte. Es handelte sich dabei um die Fortsetzung meines Artikels über einen weißen Feuerwehrmann, den ich vor zwei Tagen abgegeben hatte. Der Artikel über Richter Sharpe, der während der Unruhen bei der Nationalgarde gewesen war, sollte die Serie vervollständigen. Falls ich ihn schreiben konnte. Es war 14:14 Uhr. Wenn ich in fünf Minuten aufbrach, hätte ich gerade genug Zeit, um mich vor meinem Treffen mit Vic in der Starbucks-Filiale im Renaissance Center umzuziehen. Mein Handy summte. Meine Schwester. Sie ist Papas Tante. Warum? Ist mit ihr alles in Ordnung? Typisch Grace, dass sie sich sofort Sorgen machte. Ich will sie besuchen. Weißt du, wo sie wohnt? Ich starrte wartend auf das Display. Soweit ich weiß, wohnt sie immer noch im alten Lapeer-Haus. Sie schrieb das, als müsste ich wissen, wo das war, als bedürfte das alte Lapeer-Haus keiner weiteren Erklärung. Selbst nach all der Zeit ärgerte es mich noch, dass meine ungeplante Geburt neun Jahre nach meiner Schwester zur Konsequenz hatte, dass ich mich oft wie eine Außenseiterin in meiner eigenen Familie fühlte, die viele alte Geschichten und Insiderwitze nicht verstand. Adresse? Pause. Mama könnte sie haben. Na toll. Meine Eltern waren seit acht Jahren Missionsärzte im Amazonas-Mündungsgebiet. Ich konnte sie nicht nach Lust und Laune anrufen. Mama rief zu meinem Geburtstag und an Weihnachten an und auch sonst hin und wieder, wenn sie zufällig in einer Stadt waren, um ihre Vorräte aufzufüllen, aber das kam nicht oft vor. Mein Handy summte wieder. Oder ruf Barb an. 269-555-7185. Ich verkniff mir die Frage, wer Barb war, da ich das offensichtlich wissen sollte. Am besten rief ich diese Barb einfach an. Die Aussicht, Fotos von den Unruhen, die noch nie jemand gesehen hatte, in die Hände zu bekommen, war zu verlockend, um Zeit mit langen Fragen zu verlieren. Apropos Zeit … Wieder warf ich einen Blick auf die Uhr. Wenn ich es pünktlich ins Renaissance Center schaffen wollte, musste ich los. Jetzt sofort. Ich schnappte meine Handtasche und die kleine Reisetasche vom Schreibtisch und lief in Richtung Treppenhaus. »Liz!« Mein Redakteur war der einzige Mensch auf der Welt, der »Liz« zu mir sagte. »Ich habe es eilig, Jack. Ich komme zu dir, sobald ich zurück bin. Drei Uhr. Spätestens vier.« Ich ließ die Metalltür hinter mir zufallen, verdrängte den Gedanken an die Schachtel mit den Fotos und konzentrierte mich ganz auf meine eigentliche Arbeit: Richter Ryan Sharpe, der dafür bekannt war, sehr vorsichtig zu sein, dazu zu bringen, etwas über seine Verstrickung in die Unruhen von 1967 zu verraten. Denn auch wenn er der Öffentlichkeit ein anderes Bild vorgaukelte, sagte mir mein Bauchgefühl, dass in seiner schwarzen Robe ein Mann steckte, der etwas zu verbergen hatte.weiterlesen

Elektronisches Format:

Sprache(n): Deutsch

ISBN: 978-3-9636292-6-6 / 978-3963629266 / 9783963629266

Verlag: Francke-Buch

Erscheinungsdatum: 18.02.2020

Seiten: 400

Auflage: 1

Übersetzt von Silvia Lutz
Autor(en): Erin Bartels

16,99 € inkl. MwSt.
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