Der vorliegende Band (herausgegeben von Dorothee Kimmich und Philipp A. Ostrowicz) enthält die Vorlesungen zur Tübinger Poetik-Dozentur 2011 von Brigitte Kronauer und Otto A. Böhmer zum Thema: Wirkliches Leben und Literatur. Brigitte Kronauer beantwortet in ihren Poetikvorlesungen nicht die Frage, wozu Literatur dient, auch nicht die, welche Funktion Literatur haben kann oder soll. Vielmehr ist die Frage, wieso man Literatur braucht. Eigentlich braucht man Licht und Luft, Essen und Trinken, Schlaf und Bewegung. Literatur braucht vielleicht der Literaturwissenschaftler, alle anderen 'brauchen' sie nicht – könnte man meinen.
Was schließlich würde man versäumen oder verpassen, wenn es keine Literatur gäbe? Schöne Geschichten, träumerische Phantasien, Reisen in fremde, in unbekannte, in irreale Welten? Die Antwort von Kronauer lautet anders: Wer nicht liest, versäumt die Wirklichkeit. Wer nicht liest, verpasst die reale Realität; nicht deshalb, weil Literatur die Wirklichkeit verschönert, verklärt oder poetisiert. Offenbar macht sie die Wirklichkeit erst wahrnehmbar. Die Wahrnehmung von Wirklichkeit ist eine Fähigkeit, die weder rein rational etwas wie einen Erkenntnisprozess darstellt noch eine rein intuitive, unbegriffliche oder vorbegriffliche Operation. Literatur bewegt sich in und zwischen beidem.
Otto A. Böhmers Vorlesung thematisiert die „Philosophie des Vormittages“, wie es bei Friedrich Nietzsche in „Menschliches, Allzumenschliches“ heißt, ausgehend vom „schönen Schein“ und steht in einem Dialog mit den Texten Brigitte Kronauers. Böhmer verfolgt Nietzsches Konzept mit Rückgriff auf die Theorie des „schönen Scheins“ bei Hegel und Platon über Eichendorff hin zu Rilke und Musil.
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