29 Tonbänder, Magnetbandspulen, fast alle in den originalen Schubern verpackt, mit nummerierten Aufklebern, beiliegend bekritzelte Zettel, handschriftliche stichwortartige Notizen – der Audio-Nachlass von Rolf Dieter Brinkmann. Die Nummerierung stammt von der Witwe Maleen Brinkmann, die 30 Jahre nach dem Tod des Dichters, die Bänder zur Veröffentlichung freigibt.
Die Aufnahmen entstanden – wie aus den Notizen, die einige wenige Datierungen enthalten, ersichtlich wird – im Zeitraum von Oktober bis Dezember 1973. Brinkmann machte die Aufnahmen in Köln mit Uher- und Nagra-Tonbandgeräten für die Sendereihe „Autorenalltag“ des Westdeutschen Rundfunks. Redaktion: Hanns Grössel. Die 48:44 Minuten lange Sendung wurde am 26.1.1974 ausgestrahlt. Insgesamt nahm Brinkmann fast elf Stunden auf, die 29 Spulen haben eine Gesamtlaufzeit von 656:52 Minuten. Dass Brinkmann die Bänder als Materialquelle benutzte, erschließt sich schon aus den Notizen. Einzelne Aufnahmen bewertete er in Bezug auf eine mögliche Verwendung mit kurzen Bemerkungen wie „sehr gut!!!“ oder „Gut!“ usw.
Die Notizen liefern Anhaltspunkte für Formen (Monolog, Ganz heftiges Sprechen, Stille, Reflexion, Interview, Erinnerung, Schaben und Pusten ins Mikro, Einzelne Sätze aus Abblendungen), Aufnahmesituationen (Straße/Abend, nachts Uhrzeit), Themen und Motive (Der Mythos der Traurigkeit, Statistik Buchveröffentlichung) sowie Titel bzw. titelähnliche Formulierungen (Ich erinnere mich gern an die Tomatensuppe zu der Musik, Wieder ein Sonntag in Deutschland der absolut alptraumhaft ist).
Die Bänder im Nachlass dokumentieren Brinkmanns experimentelle Arbeit mit Stimme, Mikrofon und Bandmaschine. Es ist die Arbeit im Originalton-Raum, dem Raum des Authentischen, in dem die Äußerungen und Aktionen des Autors bzw. des Aufnehmenden auf die akustischen Bedingungen der Umwelt treffen.
Brinkmann operierte mit allen denkbaren Formen der Tonbandaufnahme bzw. -arbeit und produzierte eine Vielfalt von Textsorten: Monologisches Sprechen und Flüstern in der Wohnung und im Freien; Aufnahmen von Geräuschen und Geräuschabfolgen; Lesung von Postkarten, Gedichten, Notizen; Straßenatmosphäre mit Stimmen von Passanten; Partymitschnitte; spontane und reflektierende Musik-Kommentierung; Befragungen von Maleen und Robert Brinkmann; aktionistische Interviews mit Unbekannten, Kneipengästen etc.; lautpoetische Improvisationen; Telefon-Aktionen; Band-Montagen mit zwei Geräten usw. Wie manche Aufnahmen entstanden, erscheint technisch und methodisch nicht einwandfrei rekonstruierbar.
Beim Hören der 29 Bänder und bei den Überlegungen, wie diese Aufnahmen auf angemessene Weise zu edieren wären, ergaben sich die gleichen Fragestellungen wie bei der Herausgabe von Bild-Text-Collagen, die Brinkmann als „Materialbände“ bzw. „Materialhefte“ hinterließ: so wie sich für das 1972/73 entstandene Manuskript „Schnitte“ (erschienen 1988) als einzige Form die Faksimile-Veröffentlichung anbot, für die sich Maleen Brinkmann und der Rowohlt Verlag dann auch entschieden, schien uns bei den nachgelassenen Tonbändern nur eine Audio-Edition angemessen, die Brinkmanns Aufnahmen unbearbeitet als 1:1-Kopie vorstellen.
Nicht in das Material eingreifen als editorisches Prinzip: die Bänder bzw. Aufnahmen als „readytapes“ so zu belassen, wie sie vorgefunden wurden – das bedeutet die teilweise Gleichsetzung von Material und Werk. (Der Begriff Material kommt übrigens in Brinkmanns Notizen zu den Bändern nicht vor.) Doch nur über diese scheinbar einfache und radikale Lösung lassen sich Brinkmanns Aufnahmemethoden und Arbeitsweisen erschließen und erkennen. Denn die meisten takes, die auf diesen Bändern zu hören sind, entstanden spontan, sind also situative Aufnahmen, z.B. improvisierte, beim Gehen aufgenommene Monologe oder aktionistisch geführte Interviews.
Jede andere Form der Edition hätte Fragen beantworten müssen, die nur offenbleiben können. Es gibt beispielsweise Sequenzen (track: „Jetzt fällt draußen gleichmäßig“) mit beschleunigtem Abspieleffekt wie das auf einem Zettel so bezeichnete „Mickey Mouse Lachen“. Es ist möglich, dass diese Sequenz mit der Intention Mickey-Mouse-Sound zu imitieren, produziert wurde. Es ist aber auch ebenso gut möglich, dass es sich nicht um eine Absicht, sondern um ein zufälliges Resultat handelte, weil die Batterien des Geräts schwach waren wie übrigens auch bei einigen anderen Aufnahmen.
Dass jede Bearbeitung, jede Korrektur, jeder Schnitt ein falscher Ansatz im Umgang mit den nachgelassenen Aufnahmen wäre, kann z.B. auch eine Sequenz (track: Immer mit dem Scheißgeld) verdeutlichen, in der Brinkmann eine Formulierung variiert, die folgendermaßen transkribiert werden könnte: „Das Abbild des Schornsteins das Abbild des Schornsteins in ach Quatsch das Abbild das Appild das Abbild das Abbild des Schornsteins das Abbild des Schornsteins Schornschtein Schornstein Schorn Stein jetzt hab ich’s das Abbild des Schornsteins in einem Traum ist genauso blöde und deprimierend wie tatsächlich der Schornstein am Tag“. Korrigiert Brinkmann einen Versprecher? Ist es überhaupt ein Versprecher? Erforscht er einen Begriff durch wiederholte Artikulation? Wie auch immer: jeder Eingriff wäre destruktiv und würde voreilig Interpretationen festschreiben.
Bei einigen Bändern, beispielsweise den Erinnerungen an Rom (track: „Was mich in Rom angewidert hat“), bricht die Aufnahme vor dem Ende, mitten in einem Satz ab – das Fragmentarische als Grund, auf die Veröffentlichung zu verzichten? Für die Edition stellt sich im Gegenteil die Frage: Wie mit an- und abgeschnittenen Aufnahmen anders verfahren als sie in ihrer An- und Abgeschnittenheit zu veröffentlichen?
Keine Schnitte. Keine Blenden. Kein Nachpegeln. Kein Entzerren. Und vor allem: keine editorische „Form der Kontrolle“ (Brinkmann). Wäre es dann nicht konsequent, den kompletten Audio-Nachlass und nicht nur eine Auswahl zu veröffentlichen? Tatsächlich war es zunächst unsere Absicht, den Nachlass vollständig zu präsentieren, zumal Maleen Brinkmann dazu generell ihr Einverständnis gegeben hatte. Dagegen sprechen teilweise juristische, teilweise inhaltliche Gründe.
Weggelassen werden mussten z.B. Aufnahmen, die bei Parties entstanden, und die aus musikrechtlichen Gründen nicht veröffentlicht werden können.
Bei anderen Aufnahmen gab es juristische Gründe, die den Schutz der Persönlichkeit tangieren. Aber auch inhaltliche Erwägungen sprachen für eine Auswahl: beim intensiven und mehrmaligen Hören der Bänder erwies es sich als sinnvoll, stark ähnliche Sequenzen mit immer wiederkehrenden Formulierungen etc. nicht als Varianten nebeneinander zu stellen oder aufeinander folgen zu lassen, sondern auszuwählen.
Nicht in der Edition enthalten sind auch einige Aufnahmen, die von den Herausgebern als eindeutig und ausschließlich privat kategorisiert wurden.
Wo immer möglich, wurden die Spulen von der ersten bis zur letzten Sekunde kopiert und jeweils als ein geschlossener, eigenständiger track behandelt. Wo es nur möglich bzw. inhaltlich angemessen erschien, Sequenzen von einzelnen Bändern zu veröffentlichen, wurden diese ebenfalls jeweils als eigenständige tracks markiert und ausgewiesen. Die Betitelung der tracks entspricht den ersten (vollständig) gesprochenen Wörtern, die zu hören sind. Auf eine weitere Segmentierung von Aufnahmen bzw. track-Setzung wurde verzichtet, auch dort, wo mittendrin identifizierbare, in Druckform veröffentlichte Texte zu hören sind. Es gibt keine plausible Begründung für eine Bevorzugung gedruckter Texte gegenüber Audio-Aufnahmen, vor allem nicht bei einem Autor wie Brinkmann, der konsequent intermedial und medienspezifisch arbeitete.
Die meisten Aufnahmen geben „monologisches Sprechen“ wieder, sind „spoken word“ im ursprünglichen Sinn. Sie liegen nicht in gedruckter Form vor. Bei anderen Aufnahmen verwendete Brinkmann Texte und Notizen, wie manchmal aus der Art des Vortrags deutlich wird, manchmal sind es auch Texte, die in spätere, postume Veröffentlichungen eingingen bzw. dort ganz oder teilweise abgedruckt sind („Erkundungen für die Präzisierung des Gefühls für einen Aufstand“ (1987) und „Schnitte“ (1988). Brinkmann liest außerdem einige Gedichte wie „Hymne auf einen italienischen Platz“ oder „Fotos 1,2“ die er dann später, 1975 in den Gedichtband „Westwärts 1&2“ aufnahm. Auch bei der Lektüre der postumen Editionen „Rom, Blicke“ (1979) und „Der Film in Worten“ (1982) wird man fündig und stößt auf Formulierungen und Zitate, die auf Brinkmanns Bändern zu hören sind. Ob „Gaskammern voll Musik“ oder „Oben ist immer IBM. Und unten läuft die Pisse raus“ – das Selbstzitat, Collage und Re-Collage durchziehen Brinkmanns gesamtes Werk.
Der Titel „Wörter Sex Schnitt“ ist kein originaler Titel von Rolf Dieter Brinkmann. Bei der Suche nach einem alles umfassenden titelverdächtigen Zitat stießen wir in den Notizen auf die Abfolge der Begriffe „Monolog Sex Schnitt“. Davon ausgehend kristallisierte sich schließlich in Gesprächen mit Maleen Brinkmann der Titel „Wörter Sex Schnitt“ heraus, der Rolf Dieter Brinkmanns zentrale Themen und Motive einkreist.
Trotz der chronologischen Anhaltspunkte, die sich aus den Bändern und den Notizen ergaben, sprach nicht nur wegen der teilweise widersprüchlichen Nummerierung von Zetteln und Bändern alles dagegen, die CD-Edition nach Aufnahmedaten zu ordnen und die einzelnen CDs zu nummerieren. Auch ein Aufbau nach anderen formalen oder inhaltlichen Kriterien hätte nur von Rolf Dieter Brinkmanns Selbstverständnis und von seinen Arbeitsweisen, die sich u.a. intensiv der Optionen und Methoden des Collagierens bedienten, weggeführt.
Unsortiert und unmanipuliert bleiben die Aufnahmen noch am ehesten Fundstücke aus dem Nachlass.
(Katarina Agathos)
Poesie eines Güterzugs: Die Brinkmann Bänder
“Most serious writers refuse to make themselves available to the things that technology is doing. I’ve never been able to understand this sort of fear. Many of them are afraid of tape recorders and the idea of using any mechanical means for literary purposes seems to them some sort of sacrilege.”
(William S. Burroughs)
Samstag, 6. November 2004, ein regnerischer, trüber Tag, an dem wir Maleen Brinkmann in Köln trafen, um mit ihr die Herausgabe des akustischen Nachlasses ihres Mannes, der im April 1975 in London von einem Auto überfahren wurde, zu besprechen. Ein solcher Tag, wie er von Rolf Dieter Brinkmann oft beschrieben wurde: Ein lichtloser Tag in Köln. Die Bänder - insgesamt 29 Tonbandspulen - aus denen der akustische Nachlass besteht, sind über 30 Jahre alt: Originaltonaufnahmen aus dem Jahr 1973. Es sind einzigartige Tondokumente eines Autors, der sich zu dem Zeitpunkt ihres Entstehens aus dem Literaturbetrieb weitestgehend zurückgezogen hatte.
Rolf Dieter Brinkmanns immenses Werk entstand in einer relativ kurzen Schaffensphase von nur etwas mehr als zehn Jahren: Zwischen 1962 und 1975 schrieb er Erzählungen, einen Roman, Hörspiele und andere Hörfunkarbeiten, zahlreiche Gedichtbände und legte tagebuchähnliche Materialbände mit Text-Bild-Collagen an, die zum Teil postum veröffentlicht wurden. Ende der sechziger Jahre betätigte er sich als Herausgeber amerikanischer underground-Literatur. 1969 entstanden die heute legendären Anthologien Acid (gemeinsam mit Ralf-Rainer Rygulla) und „Silverscreen“.
Schnitt. Doppelpunkt. Wörtliche Rede, Absatz
Der Einfluss der amerikanischen Szene ist in seinem Werk deutlich spürbar. Für Brinkmann sind songtexte literarische Texte, und er schreibt Gedichte, die den Sog von Songs entwickeln sollten. „Leider kann ich nicht Gitarre spielen, ich kann nur Schreibmaschine schreiben, dazu nur stotternd, auf zwei Fingern“ – so Brinkmann im Vorwort zum Gedichtband „Westwärts 1&2“. Wie kein anderer Autor beschreibt er seinen Alltag und seine Umgebung in einer direkten und oft schonungslosen Weise, stellt äußerlichen Beschreibungen dabei immer seine subjektive Wahrnehmung entgegen, kaum fassbare Gedankensplitter, innere Momentaufnahmen: „Der Film in Worten. Der verstümmelte Gehirnfilm“.
Mit seinen Texten verlieh er dem „verrotteten Land Westdeutschland“ in den Siebziger Jahren Pop-Appeal – so erscheint es zumindest aus heutiger Sicht. Inzwischen ist er längst selbst eine Pop-Ikone und Kultfigur des ihm verhassten Literaturbetriebs geworden ist. Mit postumen Veröffentlichungen in den achtziger und neunziger Jahren blieb er in den deutschen Feuilletons bis in die Gegenwart präsent. Die Faszination für sein Werk, die über Generationsschranken hinweg zu spüren ist, liegt jedoch jenseits seines mittlerweile kanonisch anerkannten radical chic als Lyriker.
ach, gehen Sie mir weg mit ihren Wörtern
„Ich bin kein Dichter“. Betrachtet man Brinkmanns Gesamtwerk, stimmt man seiner Selbsteinschätzung zu. Er ist kein Dichter, eher ein multimedialer Chronist, dessen Zugriff auf die eigene Gegenwart immer der Versuch möglichst detailgetreuer Wiedergabe direkter und nicht durch Vermittlungsanstrengungen verfälschter Sinneseindrücke war. Brinkmann bezieht sich vielfach auf William S. Burroughs, unter anderem mit der Forderung, konventionelle Literatur-Formen zu überwinden. „Für die Literatur heißt das: tradiertes Verständnis von Formen mittels Erweiterung dieser vorhandenen Formen aufzulösen und damit die bisher übliche Addition von Wörtern hinter sich zu lassen, statt dessen Vorstellungen zu projizieren“.
Konsequenterweise bediente er sich bald nicht mehr nur der Schreibmaschine, um seine Wirklichkeit festzuhalten, sondern seit 1968 vor allem auch der Super-8 Film Kamera, der instamatic-Fotokamera, und des Tonbandgeräts. Er produzierte Fotoserien – meist in schwarz-weiss – fertigte Materialalben mit Text-Bildmontagen an, die u.a. postum in „Rom, Blicke“; „Der Film in Worten“; „Erkundungen für die Präzisierung des Gefühls für einen Aufstand“: „Reise Zeit Magazin (Tagebuch)“ veröffentlicht sind. Er filmte Freunde, Bekannte und sich selbst, und nahm 1973 fast elf Stunden Material auf Tonband auf. Werk und Leben dieses Autors fallen in eins. Prosa-Texte – zwischen 1962 und 1966 entstehen zahlreiche Erzählungen sowie 1968 der Roman „Keiner weiß mehr“ – sind unverkennbar autobiographisch geprägt, in lyrischen Texten steht immer die Selbst- und Fremdbeobachtung und die Suche nach dem Ich in jedem Moment im Vordergrund. „Alle Verbindungen gelten nur jetzt“. Dies lässt sein Misstrauen gegen Sprache, besonders gegen die Schriftsprache, plausibel und seine Experimentierlust mit anderen Medien konsequent erscheinen. Brinkmanns Oeuvre wurde bereits mehrfach als „langes Gedicht“ bezeichnet, man könnte es auch als performativen Text begreifen, als Text, der nicht unbedingt aufgeschrieben sein muss, sondern alle audio-visuellen Möglichkeiten umfassen kann.
Die Tonbandaufnahmen vermitteln konkret eine weitere mediale – rein akustische – Dimension dieses performativen Texts. Der Entstehungszeitraum ist Oktober bis Dezember 1973, kurz nach Brinkmanns Aufenthalt als Stipendiat in der Villa Massimo in Rom und kurz bevor er als Gastdozent für drei Monate nach Austin, Texas ging. Die Themenkreise dieser Aufnahmen sind Brinkmann-Lesern zum Teil vertraut: massive Attacken gegen den westdeutschen Nachkriegsstaat, der deutsche Sonntag, der Alltag, Köln, Geldprobleme, Körper, Sex, Sprachkritik, Umgang mit Wörtern, Erinnerungen an Aufenthalte in Rom und London, Kindheitserinnerungen. Außer den cut-up inspirierten Montagen (u.a. „mit zwei Bändern“) enthalten die Aufnahmen Sequenzen mit Monologen, selbst erzeugten Geräusche und deren Collagen sowie Straßenaufnahmen, Äußerungen von Passanten, Gespräche mit seiner Frau Maleen und Interviews mit provokanten Fragestellungen.
Von den längeren monologischen Passagen sind einige offenkundig situativ entstanden und direkt ins Mikrophon improvisiert worden, andere vermitteln den Eindruck, dass Brinkmann auf Notizen zurückgreift. So scheinen manche der von Brinkmann beschrifteten Zettel, die sich bei den Bändern befanden, nachträgliche, beim Abhören entstandene Notizen zu sein, manche dagegen Stichwortlisten, die sich Brinkmann vor der Aufnahme angelegt hatte. Exemplarisch für die Frage nach der Entstehung mancher Passagen ist auch die Aufnahme einer Straßen-Szene, in der Brinkmann von einer unbekannten, männlichen Stimme aufgefordert wird, mit dem Aufnahmegerät weiter zu gehen. Dabei fällt der Satz „die Tiere sind unruhig“.
Nach dieser Straßensequenz wird das Band gestoppt. In der nächsten Sequenz spricht Brinkmann das später in „Westwärts 1&2“ abgedruckte Gedicht „Fotos 1, 2“, das mit den Worten „Die Tiere waren unruhig“ beginnt – die auf Band erhaltene Fassung weicht von der Druckfassung in Westwärts allerdings etwas ab. An dieser Stelle kann man nur mutmaßen, inwiefern eine solche Aufnahmen als Vorstufe eines späteren Textes anzusehen ist.
Anschalten, ausschalten. Anschalten, ausschalten. Anschalten, ausschalten und Schnitte
Wichtige Impulse für Brinkmanns Tonbandexperimente, vor allem für die Montagearbeiten, aber auch für die Straßenaktionen, kann man auf William S. Burroughs zurückführen. In „acid“ findet sich beispielsweise ein Burroughs-Text, der sich förmlich wie die Anleitung zu manchen Sequenzen auf den Brinkmann-Bändern liest.
die einfachste Art des cut up auf tonband kann mit nur einem gerät durchgeführt werden nehmen sie irgendeinen text auf spulen sie vorwärts stop bespielen sie das bereits bespielte band noch einmal die worte werden gelöscht und durch neue ersetzt wiederholen sie dies einige male und sie werden feststellen dass sich die willkürlichen einschübe in vielen fällen in den text einfügen und ihr kombiniertes band erstaunlichen sinn gibt oder sie gehen mit einer bespielten tonspur los zwei minuten wiedergabe zwei minuten aufnahme und mischen ihre aufnahmen mit der straße senden sie ihre botschaft in ein würdiges ohr einige boten sind besser als andere sie wissen schon welche ich meine lippen in bewegung murmeln vor sich hin tragen meine botschaft in our yellow submarine durch ganz london wenn sie mit straßenwiedergabe arbeiten werden sie feststellen dass ihre wiedergabe den geeigneten zusammenhang findet zum beispiel spiele ich eines meiner dutch schultz letzte worte bänder auf der straße ab fünf alarmfeuer und ein feuerwehrwagen fährt genau im richtigen augenblick vorbei sie werden lernen stichworte zu geben sie werden lernen geschehen und konzepte zu arrangieren
Jede Formulierung ist überflüssig
Trotz solch offensichtlicher Inspirationsquellen schafft Brinkmann mit seinen Tonbandarbeiten etwas ganz Eigenes. Es gibt keine vergleichbaren Tonbandarbeiten deutscher Autoren. Das Material wirkt in seiner Rohheit und in seiner unbearbeiteten Form teilweise wie ein live-mitgeschnittener soundtrack, eine bootleg-Aufnahme. Brinkmann lotet die Möglichkeiten seiner eigenen Stimme und des Mediums Tonband mit ästhetischer Radikalität aus und geht produktiv mit seinen Begrenzungen um, wie zum Beispiel mit Übersteuerung. Er erzeugt Störgeräusche am Mikrophon durch Klopfen, Reiben, Kratzen oder durch sein eigenes Atmen oder Keuchen. Die Materialität dieser Aufnahmen, der sound ist für Brinkmann ebenso Sinn stiftend wie die semantischen Bezüge der gesprochenen Worte. Der Klang ist Botschaft. „Die Atemgeräusche und die Pausen zwischen den Sätzen. Der Tonfall als Erzählung.“
Dies wird auch in Sequenzen, in denen er mit den einfachsten Mitteln arbeitet deutlich, beispielsweise in einer Situation, in der er in der Wohnung in der Kölner Engelbertstrasse ein Stück von „Soft Machine“ hört und dazu seine Erinnerungen und Reflexionen auf Band spricht, während er am Lautstärkeregler dreht. Jede Form akustischen Geschehens seiner Umwelt wird in die Improvisation mit einbezogen. Etwa, wenn Brinkmann sich mit dem Tonbandgerät auf die Straße begibt und sich in seinem Redefluß dem Rhythmus, den seine Schritte vorgeben, anpasst – die mal auf das Pflaster knallen, mal durch den Schneematsch knirschen.
Mein Atem beim Schreien dampft
Brinkmann ist hier als ein präsenter Performer zu hören, der in jeder Situation souverän und experimentell mit Aufnahmegerät und Mikrophon umgeht. Auch takes, die spontan entstanden sind, oder Aufnahmesituationen, in denen seine eigene Stimme abwesend ist, erscheinen dramaturgisch immer dicht und in kompositorischer Absicht entstanden. So beispielsweise eine Aktion, die in seinen Notizen mit dem Stichwort Telefon versehen ist: Ein zwanzigminütiges Experiment mit Stimmen von angerufenen Personen bzw. automatischen Anrufbeantworter-Ansagen. Das strukturierende Element sind die wiederholten Geräusche der Wählscheibe, das Tuten, das Klacken beim Auflegen des Hörers.
Zu den eindringlichsten Sequenzen gehört eine verzerrte Aufnahme einer Unterhaltung zwischen ihm und Maleen Brinkmann während eines Winterspaziergangs. Der teilweise schwer verständliche Dialog über Krieg und Gegenwart wird immer wieder unterbrochen von wütenden Ausrufen Brinkmanns. Die Aufnahme wird in regelmäßigen Abständen leiser und reisst manchmal abrupt ab – es ist nicht erkennbar, ob dies beabsichtigt ist, etwa indem Brinkmann das Mikro mit der Hand abschirmt, oder sich von der Geräuschquelle entfernt, um einen Rhythmus zu erzeugen, oder ob das Gerät mittels „noisegate“ selbst die Geräusche ab einem bestimmten Lärmpegel unterdrückte oder in der Kälte nicht voll funktionsfähig war. Darüber lässt sich nur spekulieren. Ob sie nun zufällig oder gewollt entstanden sind – diese experimentellen Aufnahmen erzeugen eine nachhaltige Wirkung. Das an- und abschwellende Tosen eines gerade vorbeifahrenden Zuges kommentiert Brinkmann brüllend mit: „Das ist die Poesie eines Güterzuges“.
(Maleen Brinkmann)
Kratzgeräusche auf der Haut
Im Herbst 1973 erhielt Rolf Dieter Brinkmann den Auftrag, für eine Sendereihe im 3. Programm des Westdeutschen Rundfunks ein Selbstporträt in einer Länge bis zu maximal 60 Minuten zu produzieren.
Bis September 1973 hatte er sich in Rom in der Villa Massimo als Stipendiat des Landes Nordrhein Westfalen aufgehalten. Für das Frühjahr 1974 war bereits eine Gastdozentur als visiting writer an der Universität Texas in Austin geplant, die durch Professor A. Leslie Willson vermittelt war.
Doch in diesem Herbst 1973 begann Brinkmann mit einem für ihn neuen Medium zu arbeiten. Mit einem tragbaren Tonbandgerät, das der auftraggebende Sender zur Verfügung stellte, zog Brinkmann los, durchstreifte zu Tages- und Nachtzeiten die Kölner Innenstadt, erkundete seine unmittelbare Umgebung, überraschte mit Aufnahmegerät und Mikrofon Bekannte, Freunde und Familienmitglieder in verschiedenen Alltagssituationen und suchte diverse Orte und Treffpunkte auf, zu denen er sich hingezogen fühlte. Er begann, seine täglichen Eindrücke als Aufnahmen auf den Bändern zu dokumentieren.
Bei diesen Aufnahmestudien versuchte Brinkmann die Hektik im Alltag einer westdeutschen Großstadt und Zustände der Erschöpfung einzufangen. Er nahm sich selbst auf, wie er die Treppen zur Wohnung in der Engelbertstraße hinaufkeuchte. Er sammelte Körpergeräusche, das Band lief mit bei alltäglichen Verrichtungen, er befragte Passanten, zufällige Gäste über Persönliches, über ihr Intimleben.
Kratzgeräusche auf der Haut. Wörter, die eindringen, einzelne Sätze. Sex. Über Ficken. Tittenbilder. „Die zwanghaften Fickbilder in der Stadt, aufgeblasene Gefühle. Ein enormes Verheiztwerden durch Wörter und Bilder findet statt – jeden Augenblick.“
Kühl und ruhig protokollierte Brinkmann seine Beobachtungen während des Gehens im Stadtverkehr, in den Anlagen rund um die Innenstadt mit Tiergeräuschen, Stimmen, Straßenlärm. Es entstanden Aufzeichnungen einer städtischen Umgebung mit Augenblicken des Entzückens, des Schreckens und des Hasses. Gegen die Wirklichkeit: Brinkmann wollte Ekel durch Wörter erzeugen, „in frischen Hundekot zu treten“ verdeutlichen. Brinkmann erforschte ein Programm: die Abrichtung durch Wörter, die bis in die Sinneswahrnehmungen wirken. Es ging ihm darum, die entstandenen Fixierungen und Festlegungen in den Wörtern, dem Verhalten der Körper und des Charakters des Einzelnen aufzubrechen. Dabei wollte er „sehen, was zu sehen ist, alle Wörter vergessen, Hinsehen, was tatsächlich da ist“. Um die Fixierungen zu erfassen und abzulösen suchte nach er Grenzsituationen, brachte Menschen zum Sprechen, Körper an das Ende der Kraft, Sinne zum Toben. Es erinnert an ein Versuchsfeld in engem Raum, an Gefangenschaft, Befangenheit. Aus der Ausweglosigkeit führten ihn neue Bedeutungszusammenhänge durch Schnitt-Stellen, Aufschneiden, Abschneiden, neu zusammenschneiden, Knacken, gehen, laufen, Bewegung.
Mit dem technischen Gerät ging Brinkmann nicht nur schonend um. Er benutzte das Mikrophon zum Schlagen und Hämmern, schlug auf seinen Schreibtisch und Papierstapel ein, er klopfte und kratzte am Mikrofon. Dabei versuchte er einen Rhythmus der Atemlosigkeit und Musik mit Alltagsgeräten erzeugen.
Knacken und Schnitt, „hinzusehen und zu hören, was tatsächlich da ist“. Schnitt. „dieses Gesicht, das zuckt und etwas sagt weil der falsch geparkt hat.“ Das Knacken in der Leitung. „Tage mit Verstümmelungen an der Seele. Schnitt. und draußen schreien die Leute nachts.“
Fritz Mauthner: „Sprechen ist der Anfang des Todes.“
Daher Schnitte Schnitte Schnitte Schnitte schneiden.
Rolf Dieter Brinkmann erhoffte Frieden, Lust, Lust dazusein, nicht „überall Krieg“, er wünschte den intensiven Moment, jetzt anfangen, ohne vorausgegangene Prägung, ein weißes Feld, weiß „in diesem Augenblick, während man das schaut, hier in der Gegenwart, darin, lebendig, jetzt.“
Mein Name ist Rolf Dieter Brinkmann
geboren 16.04.1940, Vechta, Norddeutschland. Die erste Erzählung hieß „In der Grube“, 1962. Dann folgt der Erzählungsband „Die Umarmung“, Köln, 1965. Darauf der Gedichtband „Ohne Neger. Gedichte“, Hommerich, 1966. Dann der Gedichtband „Was fraglich ist wofür. Gedichte“, Köln, 1967. Dann der Erzählungsband „Raupenbahn“, Köln, 1966. Dann die Übersetzung Frank O’Hara „Lunchpoems und andere Gedichte“, Köln, 1969. Dann der Roman „Keiner weiß mehr“, Köln, 1968. Dann der Gedichtband „Godzilla“, Köln, 1968. Dann, als Herausgeber „Silverscreen. Neue amerikanische Lyrik“, Köln, 1969. Dann der Gedichtband „Die Piloten. Neue Gedichte“, Köln, 1968. Dann der Roman „Keiner weiß mehr“, Köln, 1968. Dann das Stereohörspiel „Auf der Schwelle“, WDR Köln, 1971. Dann die Übersetzung aus dem Amerikanischen Ted Berrigan „Guillaume Apollinaire ist tot. Und anderes“, Frankfurt 1970. Dann das Stereohörspiel „Besuch in einer sterbenden Stadt“, WDR Köln, 1973. Dann der Gedichtband „Gras. Gedichte“, Köln, 1970. Dann das Stereohörspiel „Der Tierplanet“, WDR Köln, 1972. Dann als Herausgeber „Acid. Underground und neue amerikanische Szene“, Frankfurt, 1969, zusammen mit Ralf-Rainer Rygulla. Dann „Fotos“. Seit 1968, Arbeiten mit Instamatic-Fotos. Dann, seit 1968, Arbeiten mit 8 mm Film. Dann, seit 1968 aufhören, langsam zu schreiben. Dann, seit 1969/1970, aufhören, zu schreiben. Dann, seit 1968/1969/1970, langsam nachdenken.weiterlesen