Beiträge zur Kritik und zum Fortbestand einer Schlüsseltheorie des 20. Jahrhunderts
Produktform: Buch
Adornos 100. Geburtstag vor vier Jahren hat eine Fülle von Auseinandersetzungen nicht nur mit den Texten und Theorien dieses Jahrhundertphilosophen hervorgebracht, sondern ebenso die Verbindung von Adornos Denken mit seiner Lebensgeschichte, ihrer Zeit und deren Brüchen erinnert. Nicht selten wurde dabei auch Adornos Aktualität, schärfer gesagt: seine keineswegs kontextlose Bedeutung zum Thema gemacht. – 'Überlebt Adornos Frage, ob Leben und Kunst die Lager überleben können?' (Irving Wohlfahrt), so lässt sich daher das Problem pointieren, dem der Band Wozu Adorno? Beiträge zur Kritik und zum Fortbestand einer Schlüsseltheorie des 20. Jahrhunderts gewidmet ist.
Im ersten Teil des Bandes werden Aufsätze präsentiert, die aus wechselnden Perspektiven die unverminderte Zeitgenossenschaft und das längst noch nicht versiegte Anregungspotential von Adornos Schriften darlegen. Im zweiten Teil kommt die Gegenposition zu Wort: Radikalkritiken von Martin Meyer, dem Feuilletonchef der Neuen Zürcher Zeitung, und von Herbert Schnädelbach, die den Sinn und die Dringlichkeit der Reflexion 'Wozu eigentlich Adorno?' ebenso provozieren wie deutlich machen. Im dritten Teil finden sich Essays, die sich entweder mit einzelnen wichtigen Bereichen der Kulturdiagnostik und postmetaphysischen Philosophie Adornos beschäftigen oder detailliert auf charakteristische Gedankenfiguren seiner dialektisch-sprachsensiblen Theorie Bezug nehmen. Schließlich bezeugt eine Auswahlbiographie der Literatur seit 2003 zu Adorno die Vitalität und Präsenz seines Werks, die auch der vorliegende Band ausweisen und erörtern will.
Im Grunde ist Adornos Verfahren, also die Bewegungsform dieses Denkens, so rasch zu verstehen wie das Ursprungsmotiv seiner philosophischen Arbeit einfach und das Gültige des Werks klar ist. Bleibend und gültig ist der Text. … Adornos Text, unberechenbar genau in seiner Verknüpfung begrifflicher Verbindlichkeit mit semantischer Originalität, erfüllt immer wieder die Bedingungen, die über die Differenz entscheiden zwischen den primären, epochenbestimmenden und den nach-denklich unentbehrlichen, aber auch sekundären Werken der Philosophie.
Auszuweisen ist eine solche Behauptung allein durch Interpretation. Am Beispiel eines kurzen Satzes, der Adornos Verfahren wie in der Nussschale enthält, will ich das probieren. Das Verfahren entfaltet das Motiv, das Adornos Denken unablässig erneuert und in Unruhe versetzt: Enttäuscht und hellhörig, weitsichtig und in jedem Moment illusionslos, wider jeden Verstand und mit voller Vernunft auf die Wahrnehmung von unbegrenzter Hoffnung und die Möglichkeit hiesigen Glücks nicht zu verzichten.
Natürlich, wer will es bestreiten: Obwohl sie die Jahrzehnte übersteigen, sind Adornos Verfahren, dessen Motiv und die Texte, die es realisieren, auch historisch datiert und dementsprechend hinfällig. Doch kein geschriebenes Stück Philosophie bleibt von solcher Partikularität verschont. Der Widerspruch etwa zwischen der sehr vergänglichen Gegenwartsdiagnostik und dennoch unverminderter Zeitgenossenschaft, der die Dialektik der Aufklärung charakterisiert (und den jeder konstatiert, der Adorno mit aktuellem Interesse liest), liefert darum nicht schon ein triftiges Urteil über Adornos Geltung. Er erinnert lediglich die Notwendigkeit, das Verbindliche vom rhetorisch Überzogenen und das Weiterführende vom bloss Idiosynkratischen abzuscheiden – oder es wenigstens zu versuchen.
In der Negativen Dialektik, am Ende, in den abschließenden 'Meditationen zur Metaphysik' macht Adorno noch einmal seine Grundüberlegung deutlich; und zwar in der Auseinandersetzung mit dem, was er den 'abstrakten Nihilismus' nennt, der das 'Motiv der Freiheit' verleugne, an das die Menschen trotz allem und nach wie vor – 'und vielleicht auch in der Phase der vollendeten Unfreiheit' – sich zu erinnern vermögen und sich erinnern müssen. – Warum können und müssen sie das? – Die Antwort liefert der Satz, der zugleich sagt, was die Negative Dialektik insgesamt erschließt: 'Bewusstsein könnte gar nicht über das Grau verzweifeln, hegte es nicht den Begriff von einer verschiedenen Farbe, deren versprengte Spur im negativen Ganzen nicht fehlt.'
Das ist die basale Figur von Adornos Kritik aller enttäuschten (ent-täuschten) Vernunft: Dass sie erstens verzweifelt ist, aber das gar nicht sein kann, ohne ebenso dem zu begegnen, was in der ortlos fahl gewordenen Welt den Umriss einer Fährte zu bewahren scheint, die das 'negative Ganze' a priori überschreitet und es als falsche, von ihrer Bedingung abgetrennte Wahrheit denunziert.
Was der 'Nihilist' sieht und zum Zeugen seines totalen Verdikts macht – Schmerz, Leiden, die Trostlosigkeit all jener Antworten, die vom 'Sinn des Lebens' reden möchten –, ist stets nur da, indem es ebenso sein Anderes evozieren und als Déjà-vu zur Geltung bringt; momenthaft, für den Bruchteil einer Sekunde, als 'versprengte Spur' – und dadurch an ihm selber sichtbar werden lässt, dass im Lebensgefühl bewusster Existenz notwendigerweise auch die Idee erfüllter Farbigkeit präsent ist. Diese, ihrer allgemeinen Form nach sehr einfache – und sehr alte – reflexive Operation ist der Grundzug der anti-affirmativen Dialektik der, ich wiederhole mich, Kritik der enttäuschten Vernunft, den Adorno immer und immer wieder vollzieht.
(Aus: Georg Kohler, Wozu Adorno? Über Adornos Verfahren, Motiv und Aktualität)weiterlesen